Transkript Ostpreußen 1944/45: Krieg im Nordosten des Deutschen Reiches
Transkript Ostpreußen 1944/45: Krieg im Nordosten des Deutschen Reiches
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Herzlich willkommen zu „Angelesen“ dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch von Richard Lakowski: Ostpreußen 1944/45. Krieg im Nordosten des Deutschen Reiches vor. Es erschien im Jahr 2016 im Schöningh Verlag. Wo sich heute der polnische Verwaltungsbezirk Ermland-Masuren und die waffenstarrende russische Exklave Kaliningrad erstrecken, war bis 1945 das deutsche Ostpreußen. Die Provinz war sozusagen das historische Herzstück Preußens. Dort in Königsberg hatte sich 1701 der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. selbst zum ersten König in Preußen gekrönt. Mit zuletzt rund 39 000 km2 war sie flächenmäßig etwas größer als heute Baden-Württemberg, als landwirtschaftlich geprägte Region mit gut zwei Millionen Einwohnern jedoch deutlich dünner besiedelt. Das vorliegende Buch nimmt das Zeitalter der Weltkriege in den Blick und betrachtet auf der operativen Ebene ein Kampfgeschehen, das sich in zwei Weltkriegen in Ostpreußen abgespielt hat. Am Beginn des Ersten Weltkriegs lag dem deutschen militärischen Handeln der noch heute bekannte Schlieffen-Plan zu Grunde. Er sah die Konzentration der Kräfte im Westen vor, um einen schnellen Sieg über Frankreich zu erreichen. Die Front Richtung Russland sollte hingegen nur durch die gerade eben notwendige Größenordnung an Truppenstärke gegen einen russischen Einbruch gesichert werden. So stand in Ostpreußen nur die 8. Armee mit einer Stärke von etwa 150 000 Mann unter dem Kommando des Generalobersten Maximilian von Prittwitz und Gaffron. Der geographische Vorteil, den Ostpreußen dem Verteidiger bot, waren die zahlreichen stehenden Gewässer. Der Verteidiger konnte den Angreifer zwingen, seine Kräfte bei Umgehung der masurischen Seenplatte aufzuteilen und dann mit voller eigener Stärke gegen einen Teil der aufgeteilten Streitmacht des Angreifers vorgehen. Diesen Vorteil verstand von Prittwitz nicht zu nutzen. Er stellte sich der von Osten einfallenden russischen 1. Armee weit östlich der Seenplatte in der Nähe der russischen Grenze. Als von Süden die russische 2. Armee die Grenze nach Ostpreußen überschritt, erkannte Prittwitz das hohe Risiko eingeschlossen zu werden und befahl den Rückzug. Seine – neudeutsch ausgedrückt – „performance“ als Oberbefehlshaber der 8. Armee hatte die Oberste Heeresleitung nicht überzeugt. Am 22. August 1914 wurde er durch den General der Infanterie Paul von Hindenburg abgelöst. Dieser verstand es im weiteren Verlauf, im Zusammenspiel mit seinem Stabschef Generalmajor Erich Ludendorff die natürlichen Vorteile der Provinz operativ zu nutzen, wobei er vom Unvermögen der russischen militärischen Führung profitierte. Lakowski verzichtet darauf, die Ende August 1914 folgende Schlacht bei Tannenberg mit breitem Pinsel detailreich auszumalen. Ausführliche Schilderungen dieser Schlacht sind in einer Reihe anderer Werke zu finden, wie beispielsweise im ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr-Band „Tannenberg 1914“ von John Zimmermann, der im Jahr 2021 erschienen ist. Die Truppen des Zaren fassten nach der Niederlage von Tannenberg nicht mehr Tritt, wenn sie auch noch nicht völlig aus Ostpreußen herausgedrängt waren. Erst nach Ende der Winterschlacht in Masuren im Februar 1915 standen keine russischen Einheiten mehr in der Provinz. Dabei blieb es bis zum Kriegsende 1918. Als die Provinz 1944 wieder zum Schlachtfeld wurde, waren die Rahmenbedingungen andere als im Ersten Weltkrieg. 1914 hatte die Auseinandersetzung den Auftakt des Kriegs dargestellt, in den beide Seiten mit frischen, unverbrauchten Kräften eintraten. 1944 hingegen läuteten die Kämpfe die Schlussphase eines seit Jahren andauernden, sehr verlustreichen Krieges ein. Insbesondere die deutsche Seite verfügte nicht mehr über umfangreiche Kräfte. Der erste sowjetische Ansturm konnte im Oktober 1944 weitgehend abgewiesen werden. Nach dem deutschen Gegenangriff blieb „ein etwa 27 km tiefer und 100 km breiter Streifen in sowjetischer Hand“. Dieser Geländegewinn war mit rund 80 000 sowjetischen Verlusten teuer erkauft. Die Wehrmacht hatte dagegen Ausfälle von etwa 16 000 Mann zu verzeichnen. Mit Recht weist Lakowski auf grundsätzliche Probleme der Quellenlage hin. Die Aufzeichnungen der Roten Armee sind im Wesentlichen nicht zugänglich. Für die der Wehrmacht gilt das nicht, doch ist auch hier die Überlieferung nicht lückenlos. Abgesehen davon, dass manches verlorenging, ist anzunehmen, dass unter den blutig-turbulenten Umständen der letzten Kriegsphase auch aufseiten der Wehrmacht trotz der zum Klischee geronnenen deutschen Gründlichkeit nicht mehr alles schriftlich festgehalten wurde. Die Stärkeangaben und Verlustzahlen für die Schlacht um Ostpreußen haben somit den Charakter von „Annäherungswerten“. Die Kämpfe vom Oktober 1944 waren in der Rückschau nur „Vorgeplänkel“. Die eigentliche Schlacht begann im Januar 1945. Ostpreußen war zwar für die Sowjets nur ein Nebenkriegsschauplatz. Ignorieren konnten sie es dennoch nicht. Die dortigen deutschen Truppen hätten andernfalls zur Gefahr für den weiter südlich über Warschau Richtung Berlin geführten Hauptstoß werden können. Die sowjetische Führung rechnete in Ostpreußen mit extrem gut ausgebauten Befestigungsanlagen. Das deutet sowohl auf Effektivität der deutschen Propaganda hin, die genau das behauptet hatte, als auch auf mangelhafte sowjetische Aufklärung. Tatsächlich war der seit Juli 1944 errichtete sogenannte Ostwall nur Stückwerk geblieben. Der sowjetische Operationsplan ähnelte stark dem des zaristischen Oberkommandos von 1914: ein Großverband sollte von Osten auf Königsberg vorstoßen, ein zweiter von Süden her in die Provinz vorrücken. Für Ersteres war die 3. Weißrussische Front mit gut 700 000 Mann, für Letzteres die 2. Weißrussische Front mit rund 880 000 Mann eingeplant. Die Übermacht war erdrückend, denn dem Angreifer stand in Gestalt der deutschen Heeresgruppe Mitte ein Großverband mit lediglich rund 580 000 Mann gegenüber. Zusammen verfügten beide sowjetischen Fronten über knapp 4 000 Kampfpanzer, denen nur knapp 1 400 auf deutscher Seite gegenüberstanden. Bei den übrigen schweren Waffen einschließlich der Luftwaffe fiel der Vergleich für die deutsche Seite ähnlich ungünstig aus. Auf die geographischen Vorteile Ostpreußens konnten die Deutschen diesmal nicht bauen. Der Winter 1944/45 war streng. Moore, Flüsse und Seen waren zugefroren und fielen daher als natürliche Hindernisse oft aus. Die 3. Weißrussische Front ging am 13. Januar 1945 in die Offensive. Die 2. Weißrussische Front überschritt am 19. Januar die Grenze nach Ostpreußen. Es wären rasche Erfolge zu erwarten gewesen, denn „die Möglichkeiten des personellen und materiellen Ersatzes aufseiten der Wehrmacht ließen den Aufbau einer stabilen Abwehr nicht mehr zu“. Auch die Qualität des Personals war im Sinken begriffen, wie es in einem Bericht des 41. Panzerkorps hieß: „Ausgekämmte…alte Tross-Soldaten, als Infanterie eingesetzt, versagen laufend. Frontbewährte Kämpfer kaum mehr vorhanden“. Trotz alledem zeigte sich, dass die sowjetischen Erfolge nicht mit dem vorgesehenen Tempo eintraten. Der Vormarsch gestaltete sich zäh. Moskau hatte die Einnahme Königsbergs bis zum 27. Januar befohlen. Tatsächlich fiel die Stadt erst am 9. April. Die deutschen Truppen taten, was unter den widrigen Bedingungen möglich war. Die wenigen vorhandenen Befestigungsanlagen wurden konsequent ausgenutzt. Zudem setzte man auf die sog. Großkampf-Taktik, die vorsah, während der gegnerischen Artillerievorbereitung die vorderen Grabenlinien vorübergehend zu räumen. So konnte man auf Verringerung der eigenen Verluste hinwirken. Diese Taktik stellte somit eine spezielle Form des Ausweichens dar, das notgedrungen häufig zur Anwendung kam. Dabei war sich die deutsche militärische Führung – nicht nur in Ostpreußen – darüber im Klaren, dass hier an ein dauerhaftes Aufhalten des Gegners nicht zu denken war. Generalmajor Reinhard Gehlen, der im Oberkommando des Heeres die Abteilung Fremde Heere Ost leitete und später als Präsident des BNDBundesnachrichtendienst bekannt wurde, plädierte am 20. Januar gar dafür, Ostpreußen ganz aufzugeben. Stattdessen solle man alle Kräfte gegen den sowjetischen Hauptstoß konzentrieren. Derartige Vorschläge wurden höheren Orts verworfen. Mehr noch als die mühsame und verlustreiche deutsche Gegenwehr hemmten eigene Fehler den sowjetischen Offensiverfolg. Die Sowjets setzten in ihren Streitkräften nicht anders als in der Ökonomie auf eine planwirtschaftliche Vorgehensweise: „Die bis ins Detail ausgearbeiteten Vorgaben durch die oberste sowjetische Führung…erzeugten einen außerordentlichen Druck auf die Frontstäbe“. Mit anderen Worten: Vom Führen mit Auftrag hielt Diktator Stalin überhaupt nichts. Wie Lenin vor ihm glaubte er an die Parole: „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“. In der Roten Armee waren vom Frontkommandeur bis hinunter zur taktischen Ebene Befehle wörtlich auszuführen. Kommandeure und Einheitsführer vor Ort hatten keinen Ermessensspielraum. Über die Vorgehensweise in Ostpreußen wurde am grünen Tisch in Moskau entschieden. Die Folgen, die sich daraus ergaben, waren verheerend. Die Verluste der Roten Armee waren weit höher als sie hätten sein müssen. Oft genug wurden Frontalangriffe durchgeführt, wo die militärische Rationalität stattdessen eine Umfassung nahelegte. Auch beherrschte man das Gefecht der verbundenen Waffen nur unzureichend, die „Zusammenarbeit der Waffengattungen…erwies sich als mangelhaft“. Die Qualität des Offizierskorps hatte infolge der zahlreichen Ausfälle im Kriegsverlauf nachgelassen, da die nachrückenden Offiziere oft hastig und oberflächlich ausgebildet worden waren. Dieses Phänomen war grundsätzlich auch auf deutscher Seite anzutreffen. Die hohen Verluste waren freilich auch Folge der Führungsphilosophie der Roten Armee, die Sparsamkeit beim Verbrauch von Menschenleben ausdrücklich nicht vorsah. Man erinnert sich an das in den Memoiren des USUnited States-Generals und späteren Präsidenten Dwight D. Eisenhower überlieferte Zitat des Marschalls und Helden der Sowjetunion, Georgi Schukow, der sinngemäß sagte, man könne Infanterieverbände ruhig in vermintes Gelände vorrücken lassen. Die Verluste seien dabei auch nicht höher, als wenn der Gegner dasselbe Gelände mit Maschinengewehren und Artillerie verteidigen würde. Die Kombination aus menschenverachtender Führungskultur, Moskauer Zentralismus und Feindeinwirkung sorgte in der 3. Weißrussischen Front im ersten Monat der Offensive für Ausfälle von über 150 000 Mann, was rund 22 Prozent der Angriffsstärke vom 13. Januar 1945 entsprach. Ihre erdrückende Überlegenheit sicherte den Sowjets trotzdem erhebliche Geländegewinne. Königsberg war Mitte Februar eingeschlossen und somit von seinem für Evakuierungsoperationen unverzichtbaren Ostseehafen Pillau (heute Baltijsk) abgeschnitten. Ihrem deutschen Gegner trauten die Sowjets keine Offensivfähigkeit mehr zu. Sorglosigkeit und mangelhafte Feindaufklärung waren die Folge. Als die durch Organisationsänderungen mittlerweile zur Heeresgruppe Nord gewordene Heeresgruppe Mitte am 19. Februar 1945 „Unternehmen Westwind“ zur Wiederherstellung der Verbindung nach Königsberg startete, wurde die Rote Armee davon völlig überrascht. Binnen drei Tagen erreichte man das Operationsziel, „Gegenangriffe scheiterten, Einheiten der sowjetischen 39. Armee wurden eingeschlossen und zerschlagen“. Durch diese letzte größere Operation der Wehrmacht in Ostpreußen konnte Königsberg rund acht Wochen länger gehalten werden. Der Preis für den kurzfristigen Erfolg war hoch. Am 1. März 1945 meldete die Heeresgruppe Nord eine Gesamtstärke von rund 385 000 Mann, etwa ein Drittel weniger als zum Jahreswechsel 1944/45. Als die Rote Armee Anfang April mit Großaufgebot zur Einnahme Königsbergs antrat, hatte man ihr kaum noch etwas entgegenzusetzen. In einer Meldung des Panzerregiments 31 vom 8. April 1945, dem Vortag der Kapitulation Königsbergs, hieß es: „Nach einem Tag Einsatz ist die Zahl der eigenen Panzer an den Fingern abzuzählen“. Nach dem Fall Königsbergs zogen sich Gefechte im Weichselgebiet ganz im Westen Ostpreußens noch bis Anfang Mai hin. Die Gesamthöhe der deutschen Verluste in Ostpreußen zwischen Januar und Ende April 1945 ist nicht bekannt. Für die Rote Armee gibt Lakowski Gesamtverluste von rund 585 000 Mann an, darunter gut 126 000 Gefallene. Als Fazit hält der Autor fest, dass die Schlacht um Ostpreußen „bedeutsame Kräfte der Roten Armee band, die für die geplante Fortsetzung der Weichseloffensive nach Erreichen der Oder fehlten“. Sie verlängerte somit die Existenz des Hitler-Regimes, rettete aber auch vielen Flüchtlingen das Leben, die die Kriegsmarine, verstärkt durch zahlreiche zivile Schiffe, bis April 1945 über die Ostsee Richtung Westen evakuierte. Das war zu „Angelesen“ dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute mit dem Buch von Richard Lakowski: Ostpreußen 1944/45. Krieg im Nordosten des Deutschen Reiches vor. Es erschien im Jahr 2016 im Schöningh Verlag.