Angelesen - Audio-Buchjournal

Transkript - Nicht einen Schritt weiter nach Osten

Transkript - Nicht einen Schritt weiter nach Osten

Datum:
Lesedauer:
9 MIN

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Herzlich willkommen zu „Angelesen“ dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch „Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung“ von Mary Elise Sarotte vor. Immer wieder begegnet man der Meinung, der Beitritt osteuropäischer Staaten zur NATO nach 1990 sei eine Provokation Russlands, weil es sich um einen Wortbruch gehandelt habe. 1990 sei dem letzten sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow verbindlich zugesichert worden, dass keiner dieser Staaten NATO-Mitglied werden würde. Stimmt das? Wer darauf nach einer wissenschaftlich abgesicherten Antwort sucht, sollte zum vorliegenden Werk greifen. Die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte nimmt die Zeit von 1989 bis 1999 in den Blick und zeichnet anhand von Memoiren der führenden Akteure und anhand amtlicher Dokumente, insbesondere offizieller Abschriften von Gesprächen, minutiös den Ablauf der Ereignisse nach, die 1999 zur ersten Erweiterung der NATO nach Ende des Kalten Krieges führten. Die Betrachtung setzt im Herbst 1989 mit dem Mauerfall und der unmittelbaren Vorgeschichte der Deutschen Einheit ein. Gorbatschow, der an den Sozialismus glaubte, hatte sich seit seinem Machtantritt 1985 darum bemüht, das sklerotische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Sowjetunion durch Reformen zukunftsfähig zu machen. Das System erwies sich jedoch als nicht reformierbar. Durch seine Reformpolitik löste Gorbatschow – sowohl in der Sowjetunion als auch in deren mittelosteuropäischen Satellitenstaaten – unbeabsichtigt eine schwere Krise aus, meint Sarotte. Der unter dem Schlagwort Glasnost bekannte Aspekt der Reformpolitik, der auf eine Ausweitung der Meinungsfreiheit abzielte, strahlte auch in die Satellitenstaaten aus. In der DDRDeutsche Demokratische Republik artikulierte sich jetzt laut und für die Weltöffentlichkeit unübersehbar die Unzufriedenheit der Menschen mit den Zuständen im Land. Das versteinerte SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands-Regime konnte, anders als im Juni 1953, nicht mehr damit rechnen, dass die im Land stationierten Verbände der Roten Armee ihm zu Hilfe eilen und die sich ausweitenden Proteste blutig niederschlagen würden. Was jahrzehntelang weit außerhalb des realistisch Vorstellbaren gelegen hatte, rückte nun in den Bereich des Möglichen: die Vereinigung der beiden deutschen Staaten schien erreichbar. Gemäß der Rechtslage setzte dies jedoch zwingend die Zustimmung aller vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs voraus. Die USAUnited States of America machten unmissverständlich klar, dass sie nur zustimmen würden, wenn das wiedervereinte Deutschland Mitglied der NATO wäre. Die Meinung, der Beitritt osteuropäischer Staaten zur NATO nach 1990 sei eine Provokation Russlands, weil es sich um einen Wortbruch gehandelt habe, beruht vor allem auf einer Äußerung des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher. Für Bundeskanzler Helmut Kohl stand fest, dass die deutsche Mitgliedschaft in der NATO nicht zur Disposition gestellt werden sollte. Genscher hingegen neigte 1990 lange zu der Auffassung, Moskaus Zustimmung zur Deutschen Einheit sei nur im Austausch gegen substanzielle sicherheitspolitische Zugeständnisse zu haben. Am 31. Januar 1990 sprach sich Genscher bei einer Rede an der Evangelischen Akademie Tutzing dafür aus, die NATO solle erklären: „Eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, d.h. näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben„. Diese Meinungsäußerung wurde nicht zur offiziellen Position der NATO und löste selbst in Genschers unterstelltem Bereich Kopfschütteln aus. Joachim von Arnim, Leiter der politischen Abteilung der bundesdeutschen Botschaft in Moskau, wandte sich unter Umgehung des Dienstwegs im Februar 1990 an Bundeskanzler Kohls außen- und sicherheitspolitischen Chefberater Horst Teltschik. Er wies Teltschik dringend darauf hin, dass Genscher insbesondere die ökonomische Dimension der Lage außer Acht lasse: „Wir könnten uns die [Deutsche] Einheit kaufen und zwar mit Geld. Sicherheitspolitische Konzessionen würden wahrscheinlich gar nicht nötig sein“. In der Tat hatten Gorbatschows Bemühungen um Wirtschaftsreformen den sowjetischen Staatshaushalt schwer belastet und zu Wohlstandsverlusten, auch zu Versorgungskrisen geführt. Moskau war dringend auf finanzielle Unterstützung aus westlichen Ländern angewiesen. USUnited States-Präsident Bush und Bundeskanzler Kohl waren entschlossen, sich diesen Umstand zunutze zu machen. Ende Februar 1990 trafen die beiden in Camp David zusammen. Kohl meinte, sowjetische Forderungen nach einem deutschen Austritt aus der NATO seien wohl nur „Verhandlungspoker…Am Ende wird die Frage nach Bargeld stehen“. Worauf Bush mit Blick auf die finanzielle Leistungskraft der Bundesrepublik ungerührt entgegnete: „Sie haben große Taschen„. Damit war die Marschrichtung klar. Genscher stellte zwar Überlegungen an, Deutschland könne nach dem absehbaren Ende des Warschauer Pakts mit dessen vormaligen Mitgliedern eine Art paneuropäische Allianz eingehen, die anstelle der NATO die Sicherheit Europas garantieren solle. Diese Überlegungen blieben aber sehr vage und hatten zu keinem Zeitpunkt Aussicht auf Erfolg. Als Gorbatschow die Idee einer paneuropäischen Allianz im Gespräch mit USUnited States-Außenminister James Baker aufgriff, meinte dieser, sie sei „ein herrlicher Traum, aber nur ein Traum“. Ende Mai 1990 stimmte Gorbatschow auf einem Gipfeltreffen mit Präsident Bush zu, es sei Sache der Deutschen, nach der Wiedervereinigung über die Bündniszugehörigkeit ihres Landes zu entscheiden. Dieses Entgegenkommen war in der sowjetischen Führungsriege umstritten. Mancher Funktionär glaubte, man dürfe trotz der schwierigen Lage der Sowjetunion nicht zu früh zu weitgehende Zugeständnisse machen. Doch gab es nach Gorbatschows Zustimmung kein Zurück mehr. NATO-Generalsekretär Manfred Wörner behielt mit seiner Einschätzung recht: „Gorbatschow hat keine guten Karten. Er kann eine deutsche Vereinigung zu westlichen Bedingungen nicht verhindern„. Die weiteren Konditionen für die Deutsche Einheit handelten die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte bis September 1990 aus. Das vereinte Deutschland sollte Mitglied der NATO sein, jedoch ausländische Truppen „östlich der innerdeutschen Grenze von 1989 weder stationiert noch verlegt werden“ dürfen. Eine Protokollnotiz legte fest, dass diese Einschränkung nur bis zum vollständigen Abzug der Roten Armee aus Ostdeutschland gelten sollte. Hernach sollte auch ausländischen NATO-Truppen der Aufenthalt in Ostdeutschland erlaubt sein, soweit die Bundesregierung dies ausdrücklich billigen würde. Aussagen über das Verhältnis anderer Staaten außer Deutschlands zur NATO sind im Vertragswerk zur Regelung der Deutschen Einheit nicht enthalten. Die eingangs angeführte Meinung ist demnach sachlich falsch. Richtig ist, dass Bush und Kohl die prekäre wirtschaftliche Lage Moskaus ausnutzten. Zur Deckung der Kosten des sowjetischen Truppenabzugs flossen ab Herbst 1990 zwölf Milliarden DM sowie ein zinsloses Darlehen von drei Milliarden DM. Bereits im Juni 1990 hatte Moskau zudem einen durch die Bundesregierung verbürgten Kredit deutscher Banken in Höhe von fünf Milliarden DM erhalten. Ein erheblicher Teil dieser 20 Milliarden DM versickerte in der Sowjetunion in den dort etablierten Strukturen der Korruption. Die Zentrifugalkräfte, die im multiethnischen Staatsverband rasch anwuchsen, dämpfte das Geld nicht. Ende 1991 brach die Sowjetunion auseinander. Ihr Rechtsnachfolger wurde die Russische Föderation, deren Präsident seit 1991 Boris Jelzin war. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wurde zum neuen Wirtschafts- und Sicherheitsraum unter Moskaus Führung. USUnited States-Präsident Bush wurde nicht wiedergewählt. Im Januar 1993 löste Bill Clinton ihn ab. Die Regierung Clinton setzte auf Jelzin, zum einen, weil er sich für die Etablierung einer demokratischen Ordnung in Russland einzusetzen schien, zum andern, weil er Kooperation statt Konfrontation mit dem Westen suchte. Mit der Erweiterung der NATO hatte Clinton es daher nicht eilig, obwohl führende Politiker osteuropäischer Staaten nicht müde wurden, ihm einen zügigen Beitritt ihrer Staaten nahezulegen. Washington wollte weder Jelzin verprellen noch dessen innenpolitischen Gegnern durch schnelle NATO-Erweiterung Auftrieb geben. Um die zum NATO-Beitritt entschlossenen Staaten Osteuropas nicht zu enttäuschen, wurde im Nordatlantischen Kooperationsrat, den die NATO 1991 eingerichtet hatte, das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ (PfP) ins Leben gerufen. Mit dieser Partnerschaft wurde die Möglichkeit der Kooperation zwischen Streitkräften der NATO-Staaten und Streitkräften sowohl der osteuropäischen NATO-Aspiranten als auch früherer Sowjetrepubliken geschaffen. Auch Russland trat der Partnerschaft für den Frieden bei. Sie eröffnete den Osteuropäern die Chance zur allmählichen, schrittweisen Annäherung an eine NATO-Vollmitgliedschaft, ohne dem strukturell einbezogenen Russland den Eindruck zu vermitteln, die NATO wolle Moskau in Sachen Erweiterung überrumpeln oder außen vor lassen. 
Der Fortgang der Ereignisse zeigte jedoch, dass die „Partnerschaft für den Frieden“ kein langfristiges Erfolgsmodell werden konnte. Schon unter Clintons Beratern umstritten, erwies sie sich vor allem als lohnendes politisches Angriffsziel für die oppositionelle republikanische Partei. Die Republikaner rührten die Trommel für eine möglichst schnelle NATO-Vollmitgliedschaft Osteuropas und sprachen damit zahlreiche amerikanische Wählerinnen und Wähler mit osteuropäischer Einwanderungsgeschichte an. Bei den Kongresswahlen im November 1994 bescherte dieses Thema den Republikanern einen Triumph. Sie gewannen die Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus. Damit waren die Weichen in Richtung Beschleunigung der NATO-Erweiterung gestellt, „denn der Präsident wollte 1996 wiedergewählt werden und musste deshalb beachten, welche Wünsche die Wähler 1994 äußerten„. Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Budapest stellte Clinton daher Anfang Dezember 1994 – zum sichtlichen Missvergnügen des ebenfalls anwesenden Jelzin – öffentlich klar, dass allein die NATO das Fundament der Sicherheit in Europa bleibe und kein Staat das Recht habe, ihre Erweiterung zu verhindern. Neben dem amerikanischen Wählervotum erleichterte auch Jelzin die Beschleunigung der NATO-Erweiterung. Im Dezember 1994 befahl er, militärisch gegen Separatisten vorzugehen, die die Loslösung der Kaukasusrepublik Tschetschenien aus der Russischen Föderation betrieben. Das äußerst brutale Vorgehen der russischen Streitkräfte war der Auftakt zum Ersten Tschetschenienkrieg, der bis 1996 dauerte und zehntausende Opfer forderte. Die Fernsehbilder aus Tschetschenien sorgten beim westlichen Publikum dafür, dass das Bild von Jelzin als dem Verfechter einer russischen liberalen Demokratie Risse bekam, die nicht mehr zu kitten waren. Osteuropäische Politiker wie der polnische Staatspräsident Lech Walesa hatten seit Jahren regelmäßig gefordert, das russische Aggressionspotential nicht zu unterschätzen, da es sich mit dem Ende der Sowjetunion keineswegs verflüchtigt habe. Bis dato waren solche Stimmen zumeist ungehört verhallt. Durch den Tschetschenienkrieg wurden diese Warnungen nun glaubhaft. 
Dennoch unterstützte der Westen Jelzin weiterhin, vor allem aus der Sorge heraus, sein politisches Ende werde Kräften den Weg ebnen, mit denen noch erheblich schwerer umzugehen sei. In diesem Sinne hatte sich Bundeskanzler Kohl eingelassen, als er im Dezember 1994 im Gespräch mit Clinton sagte, man könne sich „nicht leisten Jelzin zu stürzen. Dabei ist nichts zu gewinnen„. Durch massive direkte und indirekte Finanzhilfen für das wirtschaftlich immer noch schwächelnde Russland wirkte die Regierung Clinton daher 1996 auf Jelzins Wiederwahl hin. Nachdem auch Clinton wiedergewählt worden war, wurde neben der Fortführung finanzieller Unterstützung für Russland die Einrichtung eines NATO-Russland-Rates beschlossen, der 1997 gegründet wurde. Offiziell als Forum bilateraler Begegnung auf Augenhöhe in Szene gesetzt, bot er Moskau gleichwohl keinen Einfluss auf die weitere Entwicklung der NATO. Ein Washingtoner Insider sagte über den NATO-Russland-Rat: „In Wirklichkeit versprechen wir [den Russen] bloß monatliche Treffen“. 1999 traten, pünktlich zum fünfzigjährigen Bestehen des Bündnisses, Polen, Ungarn und Tschechien der NATO bei. Ende desselben Jahres trat Jelzin, dessen Gesundheit unter jahrelangem exzessiven Alkoholkonsum gelitten hatte, von seinem Amt zurück. Sein Nachfolger wurde Wladimir Putin, den er kurz zuvor zum Ministerpräsidenten ernannt hatte. Jelzin informierte Clinton telefonisch vorab über seinen Rücktritt. Dabei sagte er über Putin: „Ich bin sicher, dass er ein Demokrat ist„. Ob diese Aussage eine Lüge, Ausdruck nachlassender Menschenkenntnis oder Ausdruck eines fragwürdigen Demokratieverständnisses war, bleibt offen. Sarottes Werk ist eine aufschlussreiche Lektüre. Das am Ende geäußerte Bedauern der Autorin über den ausgebliebenen Erfolg der „Partnerschaft für den Frieden“ mit Blick auf Russland kann man teilen.

von Christoph Kuhl

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