Transkript - Geschichte der baltischen Länder -
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Herzlich willkommen zu Angelesen, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.
Heute stellen wir Ihnen das Buch „Geschichte der baltischen Länder“ von Norbert Angermann und Karsten Brüggemann vor. Jahrzehntelang hat Deutschland von der Bereitschaft von NATONorth Atlantic Treaty Organization-Partnern profitiert, durch Truppenstationierung in Deutschland einen erheblichen Beitrag zur Sicherheit Deutschlands zu leisten. Nun tut Deutschland dasselbe für andere NATONorth Atlantic Treaty Organization-Partner. Auf Einladung Litauens wird dort mit der Panzerbrigade 45 ein Großverband der Bundeswehr stationiert. Diese Stationierungsentscheidung hat die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit auf Litauen und seine Nachbarländer Lettland und Estland gelenkt. Diese drei baltischen Staaten werden außerhalb des Baltikums gern als eine Einheit betrachtet. Das liegt nahe wegen ihres gemeinsamen Schicksals zu Sowjetzeiten und wegen der gemeinsamen Bedrohung, der sie heute durch Russland ausgesetzt sind.
Zu jedem Staat findet sich zahlreiche Literatur über seine historische Entwicklung. Das gilt auch für jede der drei baltischen Republiken. Angesichts dieser Fülle ist eine präzise Überblicksdarstellung von überschaubarem Umfang wünschenswert. Eine solche bieten Norbert Angermann und Karsten Brüggemann mit dem hier vorgestellten Werk, das zuerst 2018 erschien und seit 2022 in einer erweiterten und aktualisierten Neuauflage vorliegt.
Das Baltikum verdient Aufmerksamkeit nicht allein wegen aktueller sicherheitspolitischer Fragen, sondern auch, weil die Region als „Grenz- und Übergangszone für die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Ost und West sehr bedeutsam war“.
In der schriftlichen Überlieferung ist die Region etwa seit dem Jahr 1200 fassbar. Eine nähere Verbindung zum deutschsprachigen Raum stellten im 13. Jahrhundert Kaufleute der Hanse her, die die Häfen der baltischen Küste für den Russlandhandel nutzten. Als Folge dieser Verbindung ergab sich die gewaltsame Bekehrung der baltischen Stämme zum Christentum. Lettland und Estland verloren ihre Eigenständigkeit. In diesen nach dem Volksstamm der Liven noch jahrhundertelang als Livland bezeichneten Gebieten etablierte sich eine deutsche Oberschicht. Die Litauer hingegen blieben eigenständig und lebten seit dem 13. Jahrhundert unter einem einheimischen Großfürsten. Die Großfürsten von Litauen verstanden es, ihr Herrschaftsgebiet umfangreich in südöstlicher Richtung auszudehnen. Große Teile der heutigen Ukraine und Weißrusslands fielen unter litauische Kontrolle. 1386 verband sich das litauische Herrscherhaus dynastisch mit dem des Königreichs Polen. Dieser als Polen-Litauen bezeichnete Herrschaftsverband wurde zu einer wesentlichen Größe der europäischen Politik.
In Livland entstand unterdessen die Livländische Konföderation, ein loser Zusammenschluss kleiner Territorien, nämlich einiger katholischer Bistümer und des Deutschen Ordens, der sich Teile Livlands angeeignet hatte. Trotz vieler interner Streitigkeiten hatte die Konföderation lange Bestand.
Erst 1561 fielen ihre Territorien an Schweden, das im Ostseeraum auf Expansion ausging. Die aufkommende Reformation gewann in Livland an Boden, während in Litauen, nicht zuletzt wegen der Verbindung mit Polen, der römische Katholizismus vorherrschend blieb.
Als 1721 nach 20 Jahren der Große Nordische Krieg um die Vormachtstellung im Ostseeraum endete, musste Schweden sich Russland geschlagen geben und Livland an St. Petersburg abtreten. Polen-Litauen war nach wie vor ein souveräner Staat, verlor jedoch im Machtgefüge der Staatenwelt immer mehr an Einfluss. Nachdem die litauisch-polnische Dynastie der Jagiellonen, eines der mächtigsten Königshäuser des Mittelalters, das über weite Teile Mitteleuropas regierte, im 16. Jahrhundert erloschen war, wurde aus der Erb- eine Wahlmonarchie. Schier endlose Auseinandersetzungen unter Adelsfraktionen wirkten sich zunehmend nachteilig auf die Handlungsfähigkeit Polen-Litauens auf der internationalen Bühne aus.
Der Machtverfall in Polen-Litauen wirkte auf die aufstrebenden Nachbarstaaten wie eine Einladung zur Expansion. Ab 1772 griffen Russland, Preußen und die Habsburgermonarchie nach Polen-Litauen und teilten das Gebiet in mehreren Teilungsvereinbarungen unter sich auf, bis Polen-Litauen 1795 von der Landkarte verschwunden war.
Seitdem stand das gesamte Baltikum unter russischer Herrschaft. Die Begriffe Estland, Lettland und Litauen wurden amtlich nicht verwendet. Estland und Lettland waren für die Zaren die Ostseeprovinzen.
Litauen verschwand hinter dem Begriff der Nordwest-Gouvernements bzw. des Nordwestgebiets. Die bisherigen gesellschaftlichen Eliten behielten weiterhin großen Einfluss. St. Petersburg hatte weder den Wunsch noch die personellen Kapazitäten, eine große Zahl russischer Beamter zur Verwaltung der neu erworbenen Provinzen zu entsenden. Stattdessen stützte es sich zu diesem Zweck weitgehend auf die Mitwirkung der einheimischen Oberschicht, also in Estland und Lettland auf den deutschbaltischen Adel und in Litauen auf den dortigen Adel, zu dem infolge der über 400-jährigen Verbindung Litauens mit Polen auch zahlreiche polnische Adlige gehörten. Da St. Petersburg in erster Linie die Oberschichten im Blick hatte, wurden Estland und Lettland „als protestantisch und deutsch angesehen“, während „die litauischen Gebiete als katholisch und weitgehend polnisch“ galten.
Letzteres sorgte im Lauf des 19. Jahrhunderts für eine zunehmende Eintrübung des Verhältnisses zwischen Litauen und der russischen Zentralmacht. Im russisch besetzten Polen flammten 1830 und 1863 bewaffnete Volksaufstände gegen die russische Besatzung auf, denen sich wegen der langen gemeinsamen Geschichte auch in Litauen viele Menschen anschlossen. Die Aufstände wurden blutig unterdrückt. Seit 1864 wurde in Litauen eine antipolnische Politik ins Werk gesetzt. Dazu gehörte Repression gegen die katholische Kirche, die man in St. Petersburg für den wesentlichen Träger von polnischem Nationalismus in Litauen hielt. Ziel dieser Politik war langfristig eine kulturelle Annäherung der Litauer an die Russen zu erreichen. Diesem Ansatz war kein Erfolg beschieden.
„Anti-katholische Maßnahmen stärkten in Litauen eher die Bindung zur Kirche“, die, anders als man am Zarenhof annahm, nicht den polnischen, sondern den litauischen Nationalismus förderte. Geistliche erteilten trotz Verbot heimlich Schulunterricht in litauischer Sprache. Sie waren zudem vielfach eingebunden in die Netzwerke der Bücherschmuggler, die sich gebildet hatten, nachdem 1864 die Herstellung von Druckschriften in Lettern des lateinischen Alphabets verboten worden war. Das Verbot blieb 40 Jahre in Kraft, wurde aber in so großem Umfang unterlaufen, dass es seinen Zweck verfehlte.
In Lettland und Estland waren die Bemühungen um Russifizierung weniger entschieden und wurden nur zeitweise mit Nachdruck betrieben. Für die wirtschaftliche Entwicklung machte es einen großen Unterschied, dass die Leibeigenschaft der bäuerlichen Bevölkerung in Estland und Lettland bereits 1817 bzw. 1819 abgeschafft wurde, in Litauen hingegen, wie im gesamten russischen Imperium, erst 1861. Das verzögerte den sozialen Wandel in Litauen und wirkte sich auch auf die Bildungschancen breiter Bevölkerungskreise nachteilig aus. 1897 konnten 94 Prozent der Esten und 85 Prozent der Letten lesen, jedoch nur knapp die Hälfte der Litauer. Das wachsende nationale Bewusstsein artikulierte sich in Estland und Lettland früher als in Litauen. Auch wurden Estland und insbesondere Lettland stärker industrialisiert als Litauen. Lediglich in Lettland bildete sich so eine nennenswerte sozialdemokratische Arbeiterbewegung.
Ziel der nationalen Bewegungen der Esten, Letten und Litauer war es, „ihre immer stärker werdende kulturelle Präsenz in politische Mitsprache umzumünzen“. Die Gelegenheit dafür schien 1905 günstig, als die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg das Regime des Zaren kurzfristig ins Straucheln brachte. Dem Autokraten blieb keine andere Wahl als huldvoll die Einrichtung eines Parlaments zu gewähren, in das auch Abgeordnete aus den baltischen Gouvernements gewählt wurden. Fortschritt in Richtung Autonomierechte ließ sich durch die parlamentarische Arbeit bis zum Ersten Weltkrieg aber nicht erreichen.
Erst an dessen Ende, das auch dem Zarenreich ein Ende setzte, ergab sich die Möglichkeit, baltische Nationalstaaten ins Leben zu rufen. Beobachter aus bevölkerungsreicheren Staaten zweifelten wegen ihrer relativ geringen Bevölkerungsziffer an der Überlebensfähigkeit der neuen Republiken. Doch es fand sich „in allen drei Staaten…eine kritische Masse an gut ausgebildeten Personen…, die in der Lage waren, verantwortliche Positionen auszufüllen“. Wider Erwarten konnten sich alle drei auch gegen die militärisch vorgetragenen Ansprüche Sowjetrusslands und – im Fall Litauens – gegen die Ansprüche Polens behaupten. Litauen allerdings verlor seine historische Hauptstadt Vilnius, die bis 1939 zu Polen gehörte.
Rückgrat der Wirtschaft blieb für alle drei Staaten der Export von landwirtschaftlichen Produkten, wobei man sich vom traditionell bedienten russischen Markt auf westliche Märkte umorientierte.
Wie in vielen europäischen Ländern wurden in der Zwischenkriegszeit auch in den baltischen Staaten demokratische Regierungen durch autoritäre Regime verdrängt. In Litauen etablierte sich ein solches Regime 1926, in Estland und Lettland 1934. Außenpolitisch blieb die Lage der Balten prekär. Es schien offensichtlich, dass die Sowjetunion sich „ihre“ Staaten aneignen würde, sobald sie die Gelegenheit dazu erhielte. Die Gelegenheit kam, als Stalin 1939 Hitlers Angebot zur Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa akzeptierte. Das Baltikum fiel an die Sowjetunion. Hitler hatte verfügt, dass deutschstämmige Balten ins Deutsche Reich umgesiedelt werden sollten. Das betraf etwa 120 000 Personen. Die übrigen Einwohner baltischer Staaten (ca. 5,4 Mio) waren den Sowjets ausgeliefert, die die drei Staaten im Juni 1940 besetzten.
Die sowjetische Propaganda hatte die baltischen Staaten bis dato „als faschistische Diktaturen gebrandmarkt“, jetzt wurden sie „quasi über Nacht zu friedliebenden Sowjetrepubliken“. Tausende Angehörige der alten Eliten wurden verhaftet. 1941 wurden insgesamt fast 43 000 sog. „Volksfeinde“ deportiert. In der baltischen Erinnerung wird der Zeitraum Juni 1940 bis Juni 1941 bis in die heutige Zeit als „das schreckliche Jahr“ umschrieben. Speziell den deutschen Betrachter mag das erstaunen, wenn man bedenkt, was folgte. Im Juni 1941 überfiel das Deutsche Reich die Sowjetunion. Hunderttausende baltische Juden – bei der Volkszählung 1897 hatten etwa in Vilnius 42 Prozent der Einwohner Jiddisch als Muttersprache angegeben – wurden bis 1944 ermordet.
Dass dabei 95 Prozent der litauischen Juden (ca. 200 000) aber „nur“ 25 Prozent der Juden in Estland (ca. 950) ermordet wurden, lag ausschließlich am Vormarschtempo. „Die Juden in Estland hatten ein bis zwei Monate Zeit zur Flucht“.
Die Rote Armee vertrieb die Besatzer 1944, was für die meisten Balten allerdings keine Befreiung darstellte. „Die Paranoia und das Misstrauen des Stalinismus“ bewirkten, dass Moskau nun alle Sowjetbürger in vormals deutsch besetzten Gebieten der Kollaboration verdächtigte. In der Regel war dieser Verdacht unbegründet, denn das Gros der Balten hatte sich gegenüber den Deutschen passiv verhalten. Nach einer Ruhephase unmittelbar nach Kriegsende gingen die Sowjets mit ihren üblichen Methoden gegen alle vor, die sie als „Banditen“, „Nationalisten“ oder „Handlanger“ der Deutschen einstuften. 21 000 Esten, 42 000 Letten und 73 000 Litauer wurden 1948/49 nach Sibirien deportiert. Die deutlich höhere Zahl für Litauen erklärt sich dadurch, dass hier eine regelrechte Widerstandsbewegung entstanden war, die bewaffnet der Resowjetisierung trotzte. Bis zu 50 000 Menschen umfasste die Organisation der sog. Waldbrüder, die erst 1953 zerschlagen werden konnte.
Nach Ende des Stalinismus entspannten sich die Verhältnisse langsam. Erst in den 1960er Jahren wurde wieder der Lebensstandard der 1930er Jahre erreicht.
Westliche Touristen durften Vilnius, Riga und Tallin bereisen, was den baltischen Sowjetrepubliken den Charakter einer Art Schaufenster der Sowjetunion für den Westen verlieh. Die Mehrheit der Balten „passte sich dem Leben in der Diktatur an. Man spielte mit…und behielt seine Kritik für sich bzw. äußerte sie nur im engsten Kreis“. Die seit 1985 von Generalsekretär Michail Gorbatschow betriebene Reformpolitik ermöglichte dann die offene Äußerung von Kritik. 1988 hatten friedliche Massenproteste gegen den Ausbau eines litauischen Kernkraftwerks den gewünschten Erfolg. Dieser unverhoffte Erfolg ermutigte – auch in Lettland und Estland – viele, auch für im engeren Sinne politische Anliegen auf die Straße zu gehen. Im August 1989 erinnerten (geschätzt) zwei Millionen Balten mit einer rund 600 km langen Menschenkette quer durch die drei Republiken an den 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts und demonstrierten damit ihren Wunsch nach Unabhängigkeit von Moskau. Dass eine solche Aktion überhaupt möglich war, zeigte überdeutlich den „Machtverlust des sowjetischen Staates“, der sich schließlich 1991 auflöste.
Zum zweiten Mal erlangten die baltischen Länder nun ihre Souveränität, diesmal unter günstigeren internationalen Rahmenbedingungen als 1918. Bei den erheblichen Anstrengungen, die der umfassende ökonomische und politisch-gesellschaftliche Transformationsprozess von sowjetischen hin zu westlichen Standards mit sich brachte, konnten sie auf Unterstützung durch westliche Länder zählen. Auch mit Russland schien zunächst ein akzeptables Auskommen möglich.
Als der von Esten, Letten und Litauern mit großer Mehrheit befürwortete Beitritt ihrer Staaten zur NATONorth Atlantic Treaty Organization Ende März 2004 vollzogen wurde, erklärte Wladimir Putin im April 2004, dies stelle für Russland kein Problem dar. Trotz dieser Erklärung ließ sich wiederholt das Bemühen Moskaus beobachten, die russischen Minderheiten in Estland und Lettland – immerhin jeweils etwa ein Viertel der Bevölkerung – zu instrumentalisieren. Zu diesem Zweck wurden gegenüber EU und NATONorth Atlantic Treaty Organization angebliche Versäumnisse der baltischen Staaten in Sachen Minderheitenschutz beklagt. Andererseits macht die völlig unterschiedliche Deutung der gemeinsamen Vergangenheit das beiderseitige Verhältnis problematisch. In Russland wird amtlich die Deutung kultiviert, man habe Dankbarkeit dafür verdient, dass man die Balten sowohl 1940 als auch 1944 vom Faschismus befreit habe. Jegliches in über 40 Jahren sowjetrussischer Besatzungszeit an Balten begangene Unrecht wird konsequent ausgeblendet. Die meisten Balten halten die sowjetrussische Besatzungszeit für schlimmer als die vergleichsweise kurze deutsche. Hierzu halten die Autoren treffend fest: „Solange Russland keine Anstalten einer selbstkritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte macht, wird sich an der Konfrontation nichts ändern“.
Die baltischen Staaten haben sich seit 1991 aus dem Einflussbereich Russlands gelöst und sich fest im Westen verankert. „Als Teil des demokratischen Europas“ stehen sie heute „mehr denn je zu ihren Verpflichtungen gegenüber EU und NATONorth Atlantic Treaty Organization“.
Das war Angelesen, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute mit dem Buch „Geschichte der baltischen Länder“ von Norbert Angermann und Karsten Brüggemann. Es erschien im Jahr 2022 im Reclam-Verlag in einer erweiterten und aktualisierten Neuauflage.