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Transkript - Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen.

Transkript - Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen.

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9 MIN

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Heute stellen wir das Buch „Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen. Litauen und der Zweite Weltkrieg“ von Ekaterina Makhotina vor. Im Mai 2025 hat die Bundeswehr in Litauen die Panzerbrigade 45 in Dienst gestellt, mit der Deutschland seine Verpflichtung untermauert, den baltischen NATO-Partnern beizustehen. Das Gastland Litauen blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Im 18. Jahrhundert unter die Herrschaft der russischen Zaren geraten, gelang den Litauern nach dem Ersten Weltkrieg die Abschüttelung der russischen Herrschaft und die Etablierung einer souveränen litauischen Republik. Diese souveräne Republik war jedoch nicht von Dauer. Schon 1940 wurde sie im Hitler-Stalin-Pakt, ebenso wie Estland und Lettland, der sowjetischen Einflusszone zugeschlagen, von der Roten Armee besetzt und in die Sowjetunion eingegliedert. Hitlers Feldzug gegen die Sowjetunion brachte ab 1941 die grausame dreijährige deutsche Herrschaft über Litauen mit sich, der über 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung des Landes zum Opfer fielen. Auf den deutschen Rückzug folgte 1944 die Restitution der Sowjetherrschaft, die unter vielen Litauern auf scharfe Ablehnung stieß. Bis in die 1950er Jahre hielt sich eine bewaffnete litauische Widerstandsbewegung, die von den Sowjets mühsam und verlustreich niedergekämpft werden musste. Die Reformpolitik, die der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow 1985 einleitete, eröffnete wieder Spielraum für die lange unterdrückten politischen Kräfte in Litauen, die aus dem Herrschaftsbereich Moskaus herausstrebten. 1991 wurde mit dem Zerfall der Sowjetunion der Weg zur zweiten litauischen Republik frei.  
Die Osteuropa-Historikerin Ekaterina Makhotina setzt sich in der vorliegenden Arbeit mit den Erinnerungskulturen in Litauen auseinander. Sie nimmt die Sowjetrepublik Litauen seit 1945 ebenso in den Blick wie das unabhängige Litauen seit 1991. Der Begriff Erinnerungskulturen umfasst „alle Formen des Umgangs mit der Vergangenheit…, also die Art und Weise, wie Individuen, soziale Gruppen und politische Kollektive mit der Vergangenheit umgehen und sie sich aneignen“ . Der Begriff ist im Plural zu verwenden, weil man sich eine Gesellschaft nicht als monolithischen Block vorstellen kann. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen blicken vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer Erfahrungswerte aus verschiedenen Blickwinkeln auf die historischen Ereignisse, an die erinnert wird. Dabei unterliegen die Erinnerungskulturen Veränderungen, die sich aus gesellschaftlichen Umbrüchen ergeben. Solche Umbrüche sind umso wahrscheinlicher, je länger der betrachtete Zeitraum ist. Im Fall dieser 2017 erschienen Arbeit umfasst er immerhin gut 70 Jahre.  
Nachverfolgt wird die Entwicklung der Erinnerungskulturen anhand von Museen und Gedenkstätten. Die herrschenden Kommunisten konzentrierten die historische Gedenkarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf den von ihnen amtlich sogenannten „Großen Vaterländischen Krieg“. Das Gedenken wurde im „Revolutionsmuseum der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ in Wilna (Vilnius) zentralisiert. Im Stile dessen, was die Kunstgeschichte den „Sozialistischen Realismus“ nennt, wurden hier die Sowjetmacht und insbesondere die Rote Armee mit dick aufgetragenem Pathos als Retterin des litauischen Volkes vor dem Faschismus in Szene gesetzt. Der Stil der Darstellung folgte der aus Moskau vorgegebenen Linie und unterschied sich nicht von Darstellungen in vergleichbaren Einrichtungen in anderen Sowjetrepubliken. Es ging nicht um pietätvolles Gedenken, schon gar nicht um echte Trauer, sondern um die Darstellung des „heroischen Kampfs der Kommunisten und der Sowjetmenschen gegen den Faschismus“ .
Nichts durfte von der Deutung des zum Opfer der Nazis gewordenen und durch die Sowjets geretteten litauischen Volkes ablenken. Erinnerungsarbeit, die den Fokus auf andere Aspekte legte, etwa auf die Vernichtung der litauischen Juden, war unerwünscht und wurde unterbunden. Das Jüdische Museum, das in Wilna seit 1913 bestanden hatte, musste 1948 schließen. Ekaterina Makhotina stellt heraus: „Die Unmöglichkeit, öffentlich zu trauern und zu erinnern, überführte den Holocaust ins Private und stärkte auch die Gruppenidentität der gebliebenen Juden durch die gemeinsame Trauerarbeit“ . 
In den 1960er Jahren endete die Dominanz des Sozialistischen Realismus. Das Institut für Parteigeschichte der litauischen Kommunistischen Partei beauftragte einheimische Künstler mit der Gestaltung von Gedenkstätten, die Stilelemente traditioneller litauischer Volkskunst in die Darstellung einfließen ließen. Als Beispiele führt Makhotina die Gedenkstätten in Pirčiupiai und Ablinga an. In der Nähe des im waldreichen Süden Litauens gelegenen Dorfes Pirčiupiai war 1944 eine Wehrmachtskolonne aus den Wäldern heraus von kommunistischen Partisanen beschossen worden. Da man annahm, dass die Schützen aus Pirčiupiai stammten, wurden zur Vergeltung die Dorfbewohner im Dorf zusammengetrieben und in eine Scheune eingeschlossen. Anschließend steckte man die Scheune und die Häuser des Dorfes in Brand. 119 Menschen fanden den Tod. Ähnliches hatte sich 1941 in den Dörfern Ablinga und Žvaginiai nahe der Ostseeküste abgespielt. Nachdem Wehrmachtsangehörige beschossen worden und bei Hausdurchsuchungen im Dorf Schusswaffen gefunden worden waren, brachte man die Dorfbewohner mit dem Angriff in Verbindung und erschoss kurzerhand etwa 42 von ihnen.  
In Pirčiupiai schuf 1960 ein litauischer Bildhauer zum Gedenken eine Statue aus Granit, die eine würdevoll trauernde Mutter zeigt. In Ablinga dienen 30 von einem Kollektiv litauischer Künstler geschaffene großformatige Skulpturen aus Holz seit 1972 dem Gedenken an das Massaker.  
Dass die in den 1980er Jahren erstarkende Unabhängigkeitsbewegung 1991 ihr Ziel erreichte und ein souveränes Litauen Teil der westlichen Staatenwelt wurde, konnte für die Erinnerungskulturen im Land nicht folgenlos bleiben. Die sowjetische Geschichtserzählung von Klassenkampf und Sieg über den Faschismus war passé. Die Erringung der eigenen Staatlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg, ihr Verlust durch die erzwungene Eingliederung ins Sowjetreich und ihre triumphale Wiedererlangung 1991 gaben nun den Rahmen der Erinnerungskultur der litauischen Mehrheitsgesellschaft ab. Diese Geschichtserzählung war eine rein litauisch-nationale. „Litauische Juden, Polen, Weißrussen und Russen hatten darin keinen Platz“ . Der Hitler-Stalin-Pakt, nach seinen Unterhändlern mitunter auch als Molotow-Ribbentrop-Pakt bezeichnet, wurde zum negativen Gründungsmythos der um ihre Freiheit kämpfenden litauischen Nation erhoben. Gedenkstätten wie die in Pirčiupiai und Ablinga blieben erhalten, erfuhren aber eine faktische Umwidmung. Offiziell wurde dort nun der Opfer des Sowjetsystems gedacht. Die „Fokussierung auf den sowjetischen Terror“ führte zur „Überblendung und Verdeckung der Erinnerung an die Opfer der deutschen Besatzung“ .
Das Revolutionsmuseum in Vilnius wurde geschlossen. Im vormaligen Dienstgebäude des KGB in Vilnius nahm 1992 das „Museum der Opfer des Genozids“ den Betrieb auf. Anders als man vermuten mag, bezog sich dabei der Begriff Genozid jedoch keineswegs auf die zwischen 1941 und 1944 ermordeten litauischen Juden. Vielmehr wurde Bezug auf die zwischen 1940 und 1990 von den Sowjets in Litauen verübten Verbrechen genommen. Darunter fielen die unmittelbar nach Anschluss an Stalins Reich 1940/41 deportierten über 20.000 Litauer, die unerwünschten Gesellschaftsschichten angehörten, sowie die brutale Ausmerzung der antisowjetischen Widerstandsbewegung der sogenannten Waldbrüder in der Zeit zwischen 1944 und 1953.  
Makhotina arbeitet heraus, dass in Litauen wie in anderen postsowjetischen Staaten „nationale anti-sowjetische Helden-, Täter- und Opferdiskurse [entstanden], die teilweise mit dem Erinnern an die Opfer des Holocausts in Konflikt treten“ . Die forcierte Darstellung der Litauer als Opfer Sowjetrusslands weist eine gewisse Unverträglichkeit mit der jüdischen Erinnerungskultur auf, die seit dem Ende der Sowjetunion nach Jahrzehnten der Unterdrückung ihre Stimme wieder vernehmlich artikuliert. Das wiedereröffnete Jüdische Museum in Vilnius zeigt seit 1991 eine Dauerausstellung über den Holocaust. Die jüdische Erinnerungskultur kann die weitgehende Verstrickung von Litauern in die Judenverfolgung nicht ausblenden. Die deutschen Besatzer fanden in Litauen eine Reihe einheimischer Organisationen vor, die man zur Mitwirkung an der antisemitischen Mordpolitik nicht lange bitten musste. Einen besonders prominenten Platz in der jüdischen Erinnerung nimmt dabei bis heute das in Fotos dokumentierte sogenannte Garagenmassaker von Kaunas ein, das kurz nach dem Einmarsch der Deutschen den Auftakt zur Beteiligung vieler Litauer an der Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger bildete. 
Im Garagenhof einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in Litauens zweitgrößter Stadt erschlugen litauische Antisemiten Ende Juni 1941 bis zu 60 jüdische Männer mit Eisenstangen – nicht rauschhaft binnen weniger Minuten, sondern, die hasserfüllte Handarbeit systematisch ausführend, einen nach dem anderen. In Pausen wurde jeweils der Platz neu gesäubert.  In den folgenden drei Jahren wurde ein erheblicher Teil der rund 200 000 litauischen Juden, die gewaltsam den Tod fanden, nicht von Deutschen, sondern auf deutsche Weisung durch Litauer ermordet.   
Dass es sich dabei um einen Völkermord handelte, ist unstrittig. Das litauische Bestreben, die Terrorpraxis der stalinistischen Herrschaft als Völkermord an den Litauern einzustufen, war jedoch von Anfang an umstritten und provozierte nicht nur in der jüdischen Community in und außerhalb Litauens Kritik. Auch in der Geschichtswissenschaft konnte sich diese Betrachtungsweise nicht durchsetzen. Sie blendet aus, dass etwa die Deportationen ein Mittel der Herrschaftspraxis waren, das Stalin in vielen Sowjetrepubliken einsetzte. Somit waren sie eine „unionsweite Erfahrung der Sowjetbürger“ und nicht „exklusives, „eigenes“ Leid“ der Litauer . Man entschloss sich schließlich 2018, der Kritik Rechnung zu tragen. Das Haus wurde von „Museum der Opfer des Genozids“ umbenannt in „Museum der Okkupationen und Freiheitskämpfe“. 
Träger einer weiteren relevanten Erinnerungskultur in Litauen ist die russische Minderheit. Sie ist deutlich kleiner als in Estland oder Lettland, mit rund zehn Prozent der Bevölkerung jedoch keineswegs eine vernachlässigbare Größe. Über sie weiß Makhotina zu berichten, dass viele ihrer Angehörigen sich gern am 9. Mai, an dem in Russland jährlich mit großem Pomp der Sieg im Zweiten Weltkrieg gefeiert wird, an den noch auf Ehrenfriedhöfen vorhandenen Kriegerdenkmalen aus der Sowjetzeit versammeln. Hierfür kommen individuell verschiedene Motive in Frage. Es muss nicht zwangsläufig der Wunsch nach Distanzierung von der offiziellen Geschichtspolitik Litauens zugrunde liegen. Auch der Wunsch an der Erinnerungsgemeinschaft der einstigen Weltkriegssieger innerlich teilzuhaben kann handlungsleitend sein. In vielen Fällen geht es auch schlicht um das Gedenken an Vorfahren, die im Zweiten Weltkrieg als Angehörige der Roten Armee gefallen sind. 
„Vor allem durch das Tragen des Georgs-Bändchens kommt das Bekenntnis zur stolzen Erinnerungsgemeinschaft zum Ausdruck“ . Nicht mehr, muss man mittlerweile einwenden, denn in diesem Punkt wurde Makhotinas lesenswerte Darstellung vom dynamischen Gang der Ereignisse überholt. Das am Revers getragene, in den Farben des im 18. Jahrhundert gestifteten russischen St.-Georg-Ordens gehaltene Bändchen diente ursprünglich der Erinnerung an den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg. Seine exzessive Verwendung durch den Propaganda-Apparat des herrschenden russischen Regimes bewirkte in den letzten Jahren indes einen Bedeutungswandel. Heute wird es in erster Linie als Zeichen der Unterstützung für Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verstanden. Daher darf es seit April 2022 in Litauen nicht mehr öffentlich getragen werden. Bei Zuwiderhandlung droht eine Geldbuße bis zu 700 Euro . 
Als Fazit attestiert Makhotina der litauischen Mehrheitsgesellschaft, ihre Erinnerungskultur sei seit den 2000er Jahren spürbar durch eine „verstärkte Selbst-Viktimisierung “ (Selbstdarstellung als Opfer) geprägt . Es ließe sich hinterfragen, ob der Begriff „Selbst-Viktimisierung“ der Sorge, die die Politik des russischen Nachbarn vielen Litauern bereitet, tatsächlich gerecht wird. Man kann angesichts des aggressiven Ausgreifens Russlands Richtung Westen diese Sorge, nach 1795 und 1940 ein drittes Mal zum Opfer Russlands zu werden, durchaus nachvollziehen. Zumal man als Beobachter zugestehen muss, dass man in Litauen frühzeitig die von der Moskauer Politik ausgehende Gefahr erkannt und benannt hat.

von Christoph Kuhl

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