Transkript- Angelesen-Blitzkrieg-Legende
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Herzlich willkommen zu „Angelesen! Dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch von Karl-Heinz-Frieser, Blitzkrieg-Legende, Der Westfeldzug 1940 vor. Es erschien im Jahr 2021 im De Gruyter Oldenbourg-Verlag.
Will man die wichtigsten und einflussreichsten Bücher der letzten 30 Jahre zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs benennen, so darf in dieser Liste eines keinesfalls fehlen: „Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940“ von Karl-Heinz Frieser. Erstmals 1995 veröffentlich, ist das Buch mittlerweile in der 5. Auflage erschienen und wurde zudem in zahlreiche Sprachen übersetzt: Englisch, französisch, spanisch, polnisch, rumänisch, koreanisch und japanisch. Weltweit gilt Friesers Studie an zahlreichen Militärakademien als essentielle Lektüre für das Verständnis des im Englischen so bezeichneten manoeuvre warfare. Innerhalb der Militärgeschichtswissenschaft erweckte der Autor zudem die klassische Operationsgeschichte zu neuem Leben und befreite sie durch seine anschauliche Darstellung aus den Fesseln eines kleinen militärhistorischen Expertenkreises. Dabei sticht vor allem die Visualisierung von Friesers Buch hervor: Sage und schreibe 62 Grafiken, Tabellen und Karten beinhaltet das Buch, um die Thesen zu stützen.
Die Kernthese Friesers lässt sich kurz zusammenfassen: Anders als von der Forschung jahrzehntelang geglaubt, hatte das Deutsche Reich seinen Feldzug gegen Frankreich und die Benelux-Staaten nicht als „Blitzkrieg“ geplant. Vielmehr – so Frieser – waren die deutschen Militärs eher von einem längeren Krieg gegen die Westmächte ausgegangen. Nur eine Verkettung unvorhergesehener Ereignisse führte zu dem schnellen Sieg der Wehrmacht über Frankreich. Entscheidend war hierbei vor allem der Durchbruch des Panzerkorps‘ von General Heinz Guderian bei Sedan nur vier Tage nach Feldzugsbeginn – ein Durchbruch, der Freund und Feind gleichermaßen überraschte. Mit Friesers Buch galt die These widerlegt, dass das Deutsche Reich bewusst schnelle und entscheidende Feldzüge in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs, also eben jene „Blitzkriege“, plante, um die eigene materielle Unterlegenheit gegenüber den Westmächten zu kompensieren.
Diese These basiert auf einer breiten Grundlage der damaligen Forschungsliteratur sowie umfangreicher Archivbestände aus dem Militärarchiv in Freiburg, aber auch aus dem französischen damaligen Service Historique de l’Armée de Terre in Vincennes. Hinzu kamen Interviews mit Zeitzeugen, die Anfang der 1990er Jahre noch möglich waren.
Friesers Studie umfasst etwa 440 Textseiten und gliedert sich in drei Hauptteile. Zu Beginn führt er kurz in die Entstehung des Begriffs „Blitzkrieg“ ein sowie in die Vorgeschichte des Westfeldzugs mit dem Ringen zwischen Hitler und seinen Generalstab um den Operationsplan.
Der zweite Teil – also der Hauptteil – beschäftigt sich mit dem eigentlichen Feldzug im Mai und Juni 1940, wobei Frieser seine Untersuchung mit der Beendigung der ersten Feldzugsphase, dem sogenannten „Fall Gelb“ abschließt. Die anschließende Schlacht um Frankreich, der: „Fall Rot“, wie der deutsche Deckname hieß, ist für Frieser „nur noch ein Epilog“. Er wird auf gerade einmal drei Seiten beschrieben. Das Buch schließt mit einem etwa 40-seitigen Kapitel über „Ursachen für Sieg und Niederlage“ ab, worin Frieser noch einmal ganz pronociert seine Thesen darlegt.
Der Autor führt zu Beginn aus, dass sich das Deutsche Reich kriegswirtschaftlich auf einen längeren Krieg vorbereitete, was sich in der Produktionspriorität von U-Booten und Bombern widerspiegelte. Für einen großen Krieg war die Wehrmacht Anfang 1940 jedoch noch nicht vorbereitet. Ihr rascher Aufbau vom 100000 Mann Heer im Jahr 1935 zur Millionenarmee nur fünf Jahre später ging mit einem schmerzlichen Verlust an Qualität in Ausbildung und Ausrüstung einher. Die NSNationalsozialismus-Propaganda verbreitete freilich das Bild einer schlagkräftigen, modernen Armee. Doch in Wahrheit war nicht der Motor, sondern das Pferd das Hauptzugmittel des Heeres. Frieser vergleicht die Wehrmacht im Frühjahr 1940 mit einer Lanze: Von den insgesamt 157 Divisionen waren gerade einmal 10 Divisionen Panzerdivisionen sowie weitere 6 Divisionen motorisiert; diese bildeten die eiserne Lanzenspitze. Die restlichen 141 Divisionen waren allesamt Infanteriedivisionen, wovon nicht einmal die Hälfte als voll einsatzfähig galt; sie repräsentierten den hölzernen Schaft der Lanze.
Der Qualitätsmangel in der Ausrüstung war aber noch gravierender als es der erste Anschein ohnehin schon glauben machen wollte.
1940 bestand die Masse der deutschen Panzerwaffe aus dem veralteten Panzer II, dem durchschnittlichen Panzer III und nur zu einem geringen Teil aus dem modernen Panzer IV. Die meisten alliierten Modelle – allen voran der französische Char B2 – waren ihren deutschen Pendants an Panzerung und Feuerkraft weit überlegen, wie Frieser in einer der zahlreichen Tabellen anschaulich aufzeigen kann.
Doch nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ war die Wehrmacht den Franzosen, Briten, Belgiern und Niederländern unterlegen. Die Deutschen hatten weniger Soldaten, weniger Geschütze, weniger Panzer und weniger Flugzeuge. Gerade bei den letzten gab es aber eine bedeutende Einschränkung. Die Franzosen und Briten hielten die Masse ihrer Flugzeuge weit im Hinterland zurück, da auch sie von einem langen Krieg ausgingen. Die Luftwaffe hingegen positionierte ihre Flugzeuge an der entscheidenden Stelle direkt hinter der Front, wodurch die Wehrmacht am Angriffstag, dem 10. Mai 1940, einzig auf diesem Feld eine materielle Überlegenheit genoss.
Was waren also die Gründe für den deutschen Erfolg? Es lag vor allem an der innovativen Doktrin und der daraus resultierenden taktischen und operativen Überlegenheit der Wehrmacht. Es war die Verbindung traditioneller deutscher militärischer Grundsätze mit moderner Technik.
Zu den bewährten Führungsgrundsätzen gehören noch heute Schnelligkeit und Überraschung sowie die Setzung eines klaren Schwerpunkts. Neu waren die Wiederbelebung des operativen Denkens mit der Enttabuisierung des Durchbruchs und dem Stoß in die Tiefe.
Auf operativer Ebene kam dem sogenannten Sichelschnitt-Plan von General Erich Manstein eine entscheidende Bedeutung zu. Eigentlich wollte das Oberkommando des Heeres und dessen Generalstabschef Franz Halder den Schlieffenplan des Ersten Weltkriegs in leicht abgewandelter Form wiederholen. Diesem schwebte eine weitausholende Bewegung über Nordbelgien Richtung Paris vor. Der Sichelschnittplan sah dagegen einen Angriff weiter südlich in den bewaldeten und infrastrukturschwachen Ardennen vor. Von dort sollte der Angriffskeil direkt auf die Kanalküste in den Raum Dünkirchen – Boulogne zustoßen. Mansteins Plan barg ein großes Risiko in sich, da für lange Zeit beide Flanken für französische Gegenangriffe offen waren.
Hitler entschied sich jedoch genau für diesen Plan des noch damals eher als Außenseiter geltenden Manstein und gegen den herkömmlichen Plan von Halder und seinem Generalstab.
Dass dieser Sichelschnittplan verwirklicht werden konnte, lag vor allem am Durchbruch von General Guderians XIX. Panzerkorps bei Sedan am 13./14. Mai. Hier lag der Schwerpunkt des deutschen Angriffs. Guderian gelang es unter geringen eigenen Verlusten, am 13. Mai sein Korps über die Maas zu setzen und am kommenden Tag aus dem Brückenkopf auszubrechen. Der deutsche Panzergeneral erkannte die sich bietende Gelegenheit, die Verwirrung des Gegners zu nutzen, um gemäß „Sichelschnittplan“ sofort mit seinen Panzerkräften nach Westen weiter in die Tiefe durchzustoßen; die Flankenbedrohung seines weit vor der eigentlichen Frontlinie operierenden Korps ignorierte er, ebenso die Haltebefehle seiner Vorgesetzten sowie Hitlers. In der Folge konnten die Franzosen und Briten keine neue geschlossene Frontlinie mehr aufbauen, denn die Deutschen waren ihnen – nun auch an anderen Frontabschnitten – immer einen Schritt voraus. Am Ende war die Masse der französischen und britischen Armee in nur wenigen Tagen in Nordbelgien eingekesselt.
Ein wichtiger Faktor für den deutschen Erfolg war die Überlegenheit der deutschen Führungsgrundsätze mit dem „Führen durch Auftrag“ (oder auch „Auftragstaktik“ genannt). Dies erlaubte es der Wehrmacht, ihrem Gegner im Handeln immer wieder einen Schritt voraus zu sein. Hinzu kam die Verbindung von Taktik und Technik. Das zeigte sich bei den modernen Kommunikationsmitteln, wo jeder deutsche Panzer über Funk verfügte, oder vor allem im taktischen Einsatz der Luftwaffe. Diese agierte als „fliegende Schlachtartillerie“ und griff häufig entscheidend im Schwerpunkt der Bodenkämpfe ein.
Frieser bezeichnet Sedan nicht nur als „Entscheidungsschlacht“ des Feldzugs, sondern gar als „Wendepunkt in der Militärgeschichte“, da hier das Kriegsbild des Stellungskriegs aus dem Ersten Weltkrieg durch das Kriegsbild des modernen „operativen Bewegungskriegs“ abgelöst wurde. Genau dieser Begriff steckt – so Frieser – hinter dem suggestiven Schlagwort „Blitzkrieg“.
Den deutschen Erfolg begünstigten eine Reihe von Fehlern des Gegners und zudem war die französische Armee nicht auf einen modernen Krieg vorbereitet. Die Befehlswege dauerten zu lange und die Kommandeure vor Ort wagten es nicht eigenständige Entscheidungen zu treffen. Zudem verkannten sie den deutschen Angriffsschwerpunkt in den Ardennen, sondern vermuteten diesen stattdessen in Nordbelgien. Folglich schickten sie verfrüht dorthin ihre Reserven – und damit in die Falle. Denn die Deutschen umgingen großräumig die alliierten Kräfte weiter südlich und schlossen sie schließlich ein.
Frieser widmet dem sogenannten „Wunder von Dünkirchen“ ein eigenes Kapitel. Ende Mai gelang es den Briten in einer improvisierten Aktion, den Kern ihres Heeres auf die Heimatinsel zu evakuieren und somit für den weiteren Kampf gegen das Deutsche Reich zu retten. Historiker haben seitdem darüber gerätselt, warum Hitler kurz vor der Einnahme von Dünkirchen einen Haltebefehl gab und damit den Briten diese Evakuierung erst ermöglichte. Laut Frieser wollte Hitler damit seinen Führungsanspruch gegenüber dem Militär demonstrieren. Denn in den vergangenen Tagen hatten zu viele Generäle und Unterführer vor Ort selbstständig gehandelt und die Befehle des Obersten Befehlshaber der Wehrmacht schlichtweg ignoriert.
Abschließend behandelt Frieser noch die Folgen des deutschen Sieges über Frankreich. Fortan glaubten sich Hitler und seine Wehrmacht unbesiegbar, hatten sie doch soeben die französische Armee besiegt, also die vermeintlich stärkste Armee ihrer Zeit. Hitler fühlte sich nun zum nächsten Waffengang bereit, diesmal gegen die Sowjetunion, die er in einem gigantischen „Blitzkrieg“ vernichten wollte. Anders als vor dem Feldzug 1940 im Westen folgte ihm nun seine Generalität anstandslos. Aus rein militärischer Sicht unterschied sich jedoch der Angriff auf Frankreich 1940 von jenem auf die Sowjetunion 1941 grundlegend, wie es Frieser plakativ auf den Punkt bringt: „Der Westfeldzug 1940 war ein nicht geplanter, aber erfolgreicher ‚Blitzkrieg‘, der Ostfeldzug 1941 hingegen ein geplanter, aber erfolgloser ‚Blitzkrieg‘.“
Die Wehrmacht bediente sich im Zweiten Weltkrieg auf operativer Ebene modernster Methoden, doch auf strategischer Ebene verfolgten die Deutschen das falsche Konzept. Denn dieser Krieg war ein Industriekrieg und wurde daher weniger auf dem Schlachtfeld als vielmehr in den Fabrikhallen entschieden. Somit war das Phänomen des „Blitzkriegs“ bereits im Zweiten Weltkrieg zu einem Anachronismus geworden, wie Frieser resümiert.
Was sagen uns die Erkenntnisse aus Friesers Buch für den Krieg von heute? Führungsgrundsätze sind oftmals wichtiger für den militärischen Erfolg als überlegenes Material oder Technologie.
Das Buch bietet dabei anschauliche Beispiele für die Auftragstaktik in der Praxis – und zwar auf allen Ebenen vom General bis zum Unteroffizier. Ob ein General von vorne führen soll, wie es ein Guderian oder ein Erwin Rommel praktizierten, war damals schon umstritten und ist es bis heute geblieben. Im Frankreichfeldzug 1940 erlaubte aber diese Art von Führen zweifellos eine schnelle Entschlussfassung der Führung vor Ort. Das rasche Reagieren auf die sich stets rasch verändernden Rahmenbedingungen ist damals wie heute ein wichtiger Schlüssel für den Erfolg auf dem Schlachtfeld. Trotzdem bleibt als Faktum in jedem Krieg bestehen: Die besten Führungsgrundsätze und selbst die erfolgreichsten Feldzüge sind wertlos, wenn der politischen, aber auch der militärischen Führung eine kohärente Strategie für den Gesamtkrieg fehlt. Der Frankreichfeldzug 1940 ist hierfür ein plakatives Beispiel.
Das war „Angelesen! Das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch von Karl-Heinz-Frieser, Blitzkrieg-Legende, Der Westfeldzug 1940 vor. Es erschien im Jahr 2021 im De Gruyter Oldenbourg-Verlag.
Text: Heiner Bröckermann
Gelesen von: Christoph Jan Longen