Stephan Lehnstaedt: Der Warschauer Aufstand 1944 - Transkript

Stephan Lehnstaedt: Der Warschauer Aufstand 1944 - Transkript

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Herzlich Willkommen zu „Angelesen“, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch von Stephan Lehnstaedt „Der Warschauer Aufstand 1944“. Es erschien 2024 im Reclam-Verlag. 

Im Juli 2024 reiste der deutsche Bundeskanzler in Begleitung der meisten Minister der Bundesregierung zu Regierungskonsultationen nach Warschau. Gemeinsam mit dem polnischen Ministerpräsidenten betonte er dabei die von beiden Ländern geteilten Werte und Interessen und unterstrich das gutnachbarschaftliche Verhältnis zwischen Polen und der Bundesrepublik. Man kann das gute Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn nur als historischen Glücksfall bewerten, denn in den letzten 250 Jahren war das Verhältnis die meiste Zeit alles andere als gut. Im 18. Jahrhundert wirkte Preußen, die spätere Leitmacht des Deutschen Reichs, im Einklang mit Russland und Österreich an der räuberischen Aufteilung mit, die Polen als souveränen Staat von der Landkarte verschwinden ließ. Im Deutschen Reich hatte die polnische Minderheit einen schweren Stand. Reichskanzler Bismarck hatte nur Verachtung für sie übrig und trieb ihr gegenüber eine entschieden diskriminierende Politik. Den absoluten Tiefpunkt erreichte das beiderseitige Verhältnis, nachdem die Nationalsozialisten ans Ruder gelangt waren. Der in Warschau autoritär regierende Marschall Józef Piłsudski lehnte Hitlers vermeintlich großzügiges Angebot ab, Polen beim geplanten deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion die Rolle des Juniorpartners zuzuweisen. Seitdem stand für die Nazis fest, dass der nach dem Ersten Weltkrieg ins Leben gerufene polnische Staat beseitigt werden musste. Vordergründig ging es dabei um territoriale Meinungsverschiedenheiten, die sich aus der Grenzneuziehung nach dem Ersten Weltkrieg ergaben. Die Stichworte Danzig und polnischer Korridor genügen in diesem Zusammenhang. Tatsächlich war der Rassen- und Eroberungswahn maßgeblich, der den Kern des politischen Denkens der NSNationalsozialismus-Führung bildete. Für sie war Polen nur ein ärgerliches Hindernis auf dem Weg zum angestrebten „Lebensraum im Osten“. Exemplarisch brachte der Reichsführer-SSSchutzstaffel Himmler diese Vorstellung auf den Punkt, als er in einer Rede die Polen als „dieses Volk“ bezeichnete, „das uns seit 700 Jahren den Osten blockiert und uns…immer wieder im Wege liegt. “ Dem deutschen Überfall im September 1939 folgte die deutsche Besetzung weiter Teile des polnischen Staatsgebiets. Das besetzte Gebiet wurde zum Teil direkt ins Deutsche Reich eingegliedert, zum Teil unter der Bezeichnung Generalgouvernement als sogenanntes Nebenland des Reiches geführt. Die Osthälfte Polens fiel im Rahmen einer geheim gehaltenen Absprache zwischen Berlin und Moskau vom August 1939 an die Sowjetunion. In den deutsch besetzten Landesteilen, vor allem im Generalgouvernement, wurde unverzüglich eine genozidale Politik eingeleitet. Das betraf nicht ausschließlich die jüdische Minderheit, die in Vorbereitung ihrer späteren Ermordung unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen in Ghettos zusammengepfercht wurde. Sogenannte Einsatzgruppen, die aus SSSchutzstaffel-Angehörigen und Polizeibeamten bestanden, gingen gegen alle vor, die im Verständnis der Nazis zur „polnischen Intelligenz“ gehörten. Geistliche und Ärzte, Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre, Hochschulprofessoren und Lehrer, Richter und Rechtsanwälte wurden systematisch ermordet. Dem fielen binnen weniger Monate mindestens 60 000 Menschen zum Opfer. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 dehnte sich die deutsche Herrschaft auf ganz Polen aus. Wiederum nahmen die Einsatzgruppen ihr mörderisches Handwerk auf. Ihr Auftrag war nun neben der „Ausschaltung der sowjetischen Führungsschicht…vor allem die Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Das war der Beginn des Holocaust im Kugelhagel der Exekutionskommandos“. Für die nichtjüdischen Polen war die Besatzungsherrschaft durch brutale Willkür und durch Hunger geprägt. Das Land wurde ausgeplündert, weil die Versorgung der Bevölkerung im Reich Vorrang hatte. „Das Generalgouvernement lieferte 51 % der Roggenimporte des Reichs, 66 % der Haferimporte und 52 % der Kartoffelimporte“. Zudem wurden bis Kriegsende fast zwei Millionen Polen ins Reich verschleppt, wo sie in Landwirtschaft und Industrie Zwangsarbeit zu leisten hatten. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 137 000 von ihnen ums Leben kamen. Die polnischen Streitkräfte waren 1939 der deutschen Übermacht zwar bald erlegen, hatten aber nie offiziell kapituliert. Vielen Soldaten war es gelungen, Polen nach der Niederlage zu verlassen, so auch General Wladislaw Sikorski. Er übernahm die führende Rolle in der polnischen Exilregierung, die zunächst in Frankreich, seit Juni 1940 in Großbritannien ansässig war. Die Exilregierung hatte Probleme, ihren Anspruch auf Führung der Untergrund- und Widerstandsbewegung durchzusetzen. „Beinahe alle politischen Parteien gründeten ihre eigenen Untergrundorganisationen…Sie agierten zunächst auf eigene Rechnung…Die Rivalitäten untereinander waren groß und wurden teilweise gewaltsam ausgetragen.“ Erst 1942 rauften sich die gemäßigten Teile der verschiedenen Organisationen zur Heimatarmee, Armia Krajowa, zusammen, die sich als militärischer Arm der Exilregierung im besetzten Polen verstand. Das Hauptproblem der Exilregierung war freilich politischer Natur. Die USAUnited States of America und Großbritannien waren zwingend auf Stalins Sowjetunion als Verbündeten angewiesen. Wie der britische Historiker Niall Ferguson schrieb, war der Zweite Weltkrieg in Europa nur zu gewinnen durch die Kombination von amerikanischem Kapital, britischer Geheimdienstarbeit und sowjetischer Massenkampfkraft. Die westlichen Demokratien mussten Stalin – auch in Bezug auf die Zukunft Polens – politische Zugeständnisse machen. Für den Kremlherrscher war die polnische Exilregierung unbeachtlich. Für ihn stand fest, dass Polen in einer Nachkriegsordnung nur ein kommunistisch beherrschter Satellitenstaat der Sowjetunion sein konnte. Natürlich hatte er auch nicht die Absicht, die Gebiete Polens wieder herauszugeben, die sich die Sowjetunion 1939 mit freundlicher Unterstützung Hitlers einverleibt hatte. Angesichts dieser Rahmenbedingungen war früh klar, dass die polnische Exilregierung auf verlorenem Posten stand. Das galt auch für die Armia Krajowa. Sie hatte bei weitem nicht genug Schusswaffen, um ihre sämtlichen Angehörigen zu bewaffnen. Auch Munition war äußerst knapp. 1944 war zwar absehbar, dass Deutschland den Krieg nicht gewinnen würde. Doch auch im Zurückweichen waren seine Streitkräfte noch ein gefährlicher Gegner. Ende Juli 1944 erreichte die Rote Armee die östlichen Vororte Warschaus. Wehrmacht und Waffen-SSSchutzstaffel kesselten bis zum 4. August große sowjetische Verbände ein und rieben sie weitgehend auf. „Es war dieser Sieg, …der den völligen Zusammenbruch der Ostfront hinauszögerte.“ Die Rote Armee war somit im August 1944 nicht imstande, einen Aufstand der Armia Krajowa wirksam zu unterstützen, selbst wenn Stalin dies gewünscht hätte, was nicht der Fall war. Zudem wussten die Berufsoffiziere, die die Armia Krajowa führten, dass ein Aufstand in Warschau zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern würde.  Warum also wurde der Aufstand trotz alledem ins Werk gesetzt? Einerseits versprach sich die polnische Exilregierung davon eine Verbesserung ihrer Situation. Mit Attentaten auf deutsche Funktionäre im Generalgouvernement hatte man bis dato international praktisch keine Aufmerksamkeit erregt. Man hoffte, ein großer Aufstand in Polens Hauptstadt werde eine Welle positiver Berichte in der Presse der Westalliierten auslösen und Washington und London zu mehr Unterstützung für die Exilregierung veranlassen. Andererseits beurteilte die Armia Krajowa die Lage vor Ort aufgrund unvollständiger Informationen zu optimistisch. Ihr Oberbefehlshaber, General Tadeusz Komorowski, „glaubte an einen Erfolg in Warschau.“ Am 1. August 1944 schlugen rund 25 000 völlig unzureichend bewaffnete Aufständische los. In den ersten Tagen erzielten sie Achtungserfolge, jedoch keinen strategisch entscheidenden Erfolg. Ihre „Hoffnung, dass die Rote Armee bald in die Stadt einmarschieren würde“, erfüllte sich nicht. Die überrumpelten Besatzer fingen sich und führten Verstärkungen heran. Bis zum 20. August wurden gut 21 000 Mann zusammengezogen, ganz überwiegend Verbände der Waffen-SSSchutzstaffel. Gegen die Aufständischen kam nun vor allem Artillerie bis zum Kaliber 61 cm zum Einsatz, außerdem ferngelenkte Sprengpanzer und Flammenwerfer. Die Luftwaffe griff mit Sturzkampf-Bombern in die Kämpfe ein. Hauptleidtragender war die Zivilbevölkerung. Die Deutschen missbrauchten sie als menschliche Schutzschilde: „Gruppen von bis zu 300 Menschen mussten vor deutschen Fahrzeugen hergehen und Barrikaden räumen.“ Im Übrigen wurden die in der besetzten Sowjetunion im Kampf gegen Partisanen eingeübten Grundsätze der sog. Bandenbekämpfung angewandt: Man unterschied nicht zwischen Beteiligten und Unbeteiligten, sondern brachte sämtliche Zivilisten in den von den Aufständischen kontrollierten Stadtteilen um. Hier taten sich besonders die von SSSchutzstaffel-Gruppenführer Heinz Reinefahrt kommandierten Verbände hervor, denen Anfang August im Stadtteil Wola binnen weniger Tage rund 30 000 Menschen zum Opfer fielen. In der Bundesrepublik lebte Reinefahrt auf Sylt und war jahrelang Bürgermeister von Westerland. Dass er sich für seine Verbrechen nie vor Gericht verantworten musste, ist wahrlich kein Ruhmesblatt der deutschen Rechtsgeschichte. Die Stimmen, die sich auf polnischer Seite wegen der erdrückenden Überlegenheit des Gegners für ein möglichst schnelles Ende des Kampfes ausgesprochen hatten, waren angesichts der extremen Brutalität des deutschen Vorgehens verstummt. Die Berichterstattung über den Aufstand in der Presse der westlichen Länder erzeugte dort viel Sympathie. Washington und London waren bereit, die Aufständischen mit Hilfsgütern zu unterstützen. Ihre Luftfahrzeuge durften aber erst ab Mitte September in der Sowjetunion landen. Bis dahin „schützte [Stalin] allerlei Probleme vor und gestattete dies nicht.“ Da die Maschinen in Süditalien starteten, und Jagdflugzeuge nicht die nötige Reichweite hatten, fanden die Hilfsflüge bis Mitte September ohne Schutz durch Jäger statt. Das führte zu erheblichen Verlusten. Die Westalliierten hatten außerdem keine Kenntnis der täglichen Entwicklung des Kampfgeschehens. So landeten viele Hilfsgüter bei den Deutschen. Es war das stete Drängen seiner westlichen Verbündeten, das Stalin schließlich dazu bewegte, ihnen Landungen in der Sowjetunion zu erlauben. Auch die Luftwaffe der Roten Armee warf ab Mitte September Hilfsgüter ab – allerdings ohne Fallschirme, so dass viel Material bei Bodenkontakt unbrauchbar wurde. Mittlerweile hatte die Rote Armee die östlich der Weichsel gelegenen Stadtteile Warschaus eingenommen. Dabei hatten polnische Freiwilligenverbände an ihrer Seite gekämpft. Ihnen erlaubte Stalin ab 16. September den Versuch, die Aufständischen im deutsch kontrollierten Warschau westlich der Weichsel zu entsetzen. Dieser Versuch misslang. Die Polen lagen von Anfang an unter massivem deutschem Feuer, führten aber selbst „kaum schwere Waffen mit sich, was die vorhandene Artilleriedeckung nur unzureichend ausgleichen konnte“. Die meisten Landungsboote und Pontons gingen im deutschen Feuer verloren, „und die Rote Armee sorgte nicht für Nachschub.“ Der Entsatzversuch war die letzte Hoffnung der Aufständischen gewesen. Mit seinem endgültigen Scheitern am 23. September stand fest, dass sie nicht mehr lange würden durchhalten können. Seit Beginn des Aufstands hatten sie sich dem Gegner durch Armbinden zu erkennen gegeben und großen Wert auf Kombattantenstatus gelegt. Die deutsche Führung betrachtete sie hingegen als Partisanen. Aufständische wurden sofort erschossen, Gefangene wurden nicht gemacht. Erst britischer Druck bewirkte in dieser Frage einen Wandel der Auffassung auf deutscher Seite. London verlangte die Anerkennung der Aufständischen als Kombattanten. Man werde andernfalls „gefangenen deutschen Soldaten keinen Status als Kriegsgefangene mehr zuerkennen“. Daraufhin erkannte Berlin die Aufständischen am 7. September als reguläre Truppe an. Erst das schuf die formale Voraussetzung für eine regelrechte Kapitulation, die am 2. Oktober 1944 erfolgte. Der Aufstand hatte rund 16 000 Soldaten der Armia Krajowa das Leben gekostet.  Überlegene Waffen und völkerrechtswidrige Massenmorde hatten Verluste auf deutscher Seite nicht verhindert. Circa 2 000 Angehörige von Waffen-SSSchutzstaffel und Wehrmacht waren gefallen. Mit großem Abstand die meisten Toten hatte es unter der Zivilbevölkerung gegeben. Mindestens 150 000 Einwohner Warschaus haben den Aufstand nicht überlebt. Die Stadt, in der es schon im Feldzug von 1939 Zerstörung gegeben hatte, war im Oktober 1944 nur noch „eine menschenleere Steinwüste.“ Über 90 % der Bausubstanz waren zerstört. In der Volksrepublik Polen wurde später entschieden, die Innenstadt weitgehend nach historischem Vorbild zu rekonstruieren. Mit Recht nennt Lehnstaedt sie „strahlend schön“, und mit Recht ist sie Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Als Randnotiz ist mit Bedauern zu vermerken, dass man in den meisten vom Bombenkrieg zerstörten deutschen Städten nicht so verfuhr. Deshalb sehen heute viele deutsche Innenstädte deutlich weniger ansprechend aus als vor dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl die militärische Aussichtslosigkeit des Aufstands von Anfang an feststand, hat er immense Bedeutung für die polnische Geschichte. Es ist nur folgerichtig, dass heute in Warschau ein großes, aufwendig gestaltetes Museum an ihn erinnert. In dunkelster Stunde setzte dieser Aufstand das Fanal, dass das polnische Volk nicht bereit war, sich zwischen seinen beiden größeren Nachbarn Deutschland und Russland zerreiben zu lassen. Dass es hier ein Volk gab, das um seiner Freiheit willen einen überaus entbehrungsreichen, selbst einen aussichtslosen Kampf nicht scheute. Dass trotz des Umfangs und der Grausamkeit der deutschen Verbrechen in und an Polen nach 1945 die polnisch-deutsche Aussöhnung gelang, grenzt fast schon an ein Wunder. Eine vergleichbare polnisch-russische Aussöhnung ist bislang leider noch nicht gelungen. Der russische Nachbar hat sich bis auf Weiteres darauf festgelegt, die europäische Friedensordnung von 1990 nicht mehr anzuerkennen. Er ist aggressiv auf Expansionskurs. Ob der Landhunger des Herrschers aller Russen nach einem etwaigen Sieg über die Ukraine gestillt wäre, ist fraglich. Bekanntlich muss man damit rechnen, dass seine Streitkräfte in fünf bis acht Jahren bereit sein könnten, das Territorium von NATO-Mitgliedern anzugreifen. Anders als die Armia Krajowa 1944 wäre die NATO in diesem Worst Case militärisch alles andere als chancenlos. Wenn man auch heute die Inkaufnahme sehr vieler ziviler Opfer anders bewerten würde, bleiben, bei aller Friedensliebe, der Kampfgeist und der Behauptungswille, den die Armia Krajowa damals zeigte, für jeden Soldaten im transatlantischen Bündnis vorbildlich. Das war „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch von Stephan Lehnstaedt: „Der Warschauer Aufstand 1944.“

von Christoph Kuhl

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