Osteuropa - Konflikte verstehen
Osteuropa - Konflikte verstehen
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Herzlich willkommen zu „Angelesen“ dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch von Andreas Dittmann, Robert Riemer und Arnold Teicht: Osteuropa – Konflikte verstehen. Praxis-Handbuch vor. Es erschien im Jahr 2018 im Tectum-Verlag. Der russische Überfall auf die Ukraine 2022 kam nicht von ungefähr. Der Krieg, den er einleitete, bildet den traurigen Höhepunkt der langen Konfliktgeschichte zwischen den beiden Staaten, die nicht erst mit der rechtswidrigen russischen Annexion der Krim im Februar 2014 ihren Anfang nahm. Der Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr nahm die gesteigerte Aufmerksamkeit, die der Region Mittel- und Osteuropa seit 2014 zuteilwurde, zum Anlass, 2018 den vorliegenden Band zu veröffentlichen. Er versammelt Beiträge, die die Staaten der Region von Polen bis nach Georgien in den Blick nehmen. Dabei erhebt er nicht den Anspruch eines rein wissenschaftlichen Werks. Vielmehr will er, wie der Untertitel verrät, ein Praxis-Handbuch sein. Der Band soll, „sicherheitspolitische Erwachsenenbildung mit zumutbarem Aufwand“ ermöglichen. Zu diesem Zweck schließt sich an den Hauptteil des Bandes, den die Aufsätze über die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in den mittel- und osteuropäischen Staaten bilden, eine methodisch-didaktische Handreichung an. Sie bietet praktische Hinweise zur Durchführung von Veranstaltungen der historischen oder politischen Bildung. Den Aufsätzen zu den einzelnen Staaten gehen einige Beiträge voran, die historische, politische und geographische Merkmale beleuchten, die für die Region insgesamt bestimmend waren und sind. In seinem Abriss zur Geschichte Osteuropas im 20. und 21. Jahrhundert betont Robert Riemer die hohe historische Prägekraft Russlands als des mit Abstand größten Staats der Region. Die Geschichte Mittel- und Osteuropas lässt sich demnach als die Geschichte des ständig landhungrigen russischen Imperialismus und des Abwehrkampfs kleinerer mittel- und osteuropäischer Völker gegen denselben erzählen. Friedrich Jeschonnek befasst sich in seinem Beitrag mit Konfliktmustern in der Region. Bisher, so schreibt er 2018, habe das internationale Konfliktmanagement es im Großen und Ganzen vermocht, die Konflikte in der Region „auf dem Niveau eines kontrollierten Waffenstillstandes „einzufrieren““. An Konflikten war die Region auch bereits 2018 nicht arm, wie den Beiträgen über die einzelnen Staaten zu entnehmen ist. Das gilt etwa für die zwischen Rumänien und der Ukraine gelegene vormalige Sowjetrepublik Moldawien. Von ihr spaltete sich 1992 mit russischer Unterstützung ein langgetreckter, schmaler, knapp 3600 km2 umfassender Geländestreifen gewaltsam ab, der unter der Bezeichnung Transnistrien bekannt ist und nur von Russland als eigenständiger Staat anerkannt wird. Moldawien strebte die Wiedervereinigung mit Transnistrien an, Transnistrien mindestens eine gleichberechtigte Konföderation mit Moldawien. Nach 1992 kam es nicht mehr zu Gewaltausbrüchen, sodass sich die Lage als Paradebeispiel für einen erfolgreich eingefrorenen Konflikt deuten lässt. In seinem Aufsatz über Moldawien deutet Andreas Dittmann die Möglichkeit an, in einem eskalierenden russisch-ukrainischen Konflikt könnte Russland Transnistrien als Aufmarschgebiet nutzen und so einen Zweifrontenkrieg gegen die Ukraine führen. Dieses Szenario ist bislang nicht eingetreten. Auch in Georgien bestehen mit Abchasien und Südossetien zwei international nicht anerkannte separatistische Gebiete, die in den 1990er Jahren mit Waffengewalt zustande gekommen sind und nur durch russische Unterstützung am Leben gehalten werden. Dieser Konflikt erfuhr im August 2008 eine plötzliche und heftige Eskalation, die nicht durch Russland verursacht war. Es ist wichtig, dass Arnold Teicht in seinem Beitrag über Georgien darauf hinweist, da mittlerweile als Folge des Ukrainekriegs in der öffentlichen Debatte in Deutschland immer wieder behauptet wird, Russland habe seinerzeit Georgien angegriffen. Das entspricht nicht den Tatsachen. Die berechtigte Abneigung gegen Putin und sein Regime darf nicht dazu verleiten, die Geschichte umzuschreiben. Den Krieg im Sommer 2008 löste Georgien aus. Der damalige georgische Präsident Michail Saakaschwili, der in USUnited States-Geheimdienstkreisen seinerzeit als „hyperaktiver Duracell-Hase“ eingestuft wurde, befahl den Angriff auf Südossetien. In einer Verkennung der Lage, die bis heute erstaunlich anmutet, glaubte Präsident Saakaschwili, dass die USAUnited States of America Georgien beim Angriff auf russische Truppen zu Hilfe eilen würden, was sie freilich nicht taten. So starben vom 8. bis zum 12. August 2008 etwa 2 000 Menschen, bevor Russland und Georgien sich auf Waffenstillstand und status quo ante verständigten. Der seitdem wieder eingefrorene Konflikt um Abchasien und Südossetien läge im russischen Interesse. Solange er andauert, würde Georgien nicht der NATO beitreten können. Dasselbe galt für die Ukraine, nachdem Russland in deren östlichen Bezirken seit 2014 separatistische Organisationen personell verstärkt und militärisch aufgerüstet hatte. Die Unterstützung dieser Separatisten fortzusetzen hätte völlig ausgereicht, um eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine dauerhaft zu verhindern. Doch in Sachen Ukraine ging es Russland immer schon um mehr als die Verhinderung eines etwaigen NATO-Beitritts. Daher schien die Annahme, auch der russisch-ukrainische Konflikt lasse sich einfrieren, von Anfang an nicht naheliegend. Dass das Verhältnis zwischen den beiden größten Staaten der Region von besonderem Interesse ist, liegt auf der Hand. Entsprechend fallen die beiden Aufsätze über Russland und die Ukraine umfangreicher aus als die über die übrigen Staaten. Das Fazit, zu dem Friedrich Jeschonnek in seinem Aufsatz über Russland kommt, verdient es, ausführlich zitiert zu werden: „Eine dauerhafte Entspannung in Osteuropa erscheint nur dann möglich, wenn Russland seine Vorbehalte gegenüber der NATO und den USAUnited States of America aufgibt und bereit ist, in verbindliche vertragliche Vereinbarungen…einzutreten. Derzeit ist die russische Außenpolitik davon weit entfernt“ . Diese Einschätzung ist heute noch ebenso treffend wie 2018. Die tief eingewurzelten russische Fehlwahrnehmung der NATO als Akteur mit aggressiven Absichten wird ergänzt durch die regierungsamtliche Auffassung, die ostslawischen Ethnien bildeten kulturell und ethnisch eine untrennbare historische Einheit. Diese Auffassung wirkt sich politisch so aus, dass Moskau das Recht der Ukraine und Weißrusslands auf souveräne Eigenstaatlichkeit nicht anerkennt. Anders als die Ukraine überzieht Moskau Weißrussland nicht mit Krieg, weil sich die dortige autoritäre politische Führung im Gegensatz zur demokratisch legitimierten politischen Führung der Ukraine für die Unterwerfung unter den Willen des Kremlherrschers entschieden hat. Das Pipeline-Netz in Weißrussland gehört russischen Konzernen. Die russischen Streitkräfte können auf weißrussischem Territorium nach Belieben agieren. Im Februar 2022 drangen russische Truppen auch von Weißrussland aus in die Ukraine ein. Die Frage, die Martin Grosch im Untertitel seines Aufsatzes über Weißrussland formuliert („Eigenständig oder russischer Vasall?“), kann mittlerweile als eindeutig beantwortet gelten. Die Ukraine zahlt mit dem Krieg, den Putin ihr aufzwingt, den Preis für ihren Freiheitswillen. In dem Zusammenhang ist der Umstand von Interesse, dass es sich bei der Invasion vom Februar 2022 um die Folge einer russischen Fehlkalkulation handelt. Dem Aufsatz Martin Debusmanns, der sich mit Lettland beschäftigt, ist zu entnehmen, dass Moskaus Kalkül zunächst vorsah, die große russischsprachige Minderheit in der südöstlichen Ukraine gegen die Regierung in Kiew aufzuhetzen und dort bürgerkriegsähnliche Zustände zu entfachen. Das hätte es Russland erlaubt, einen Einmarsch als humanitär notwendigen Eingriff einer wohlwollenden, friedensstiftenden Macht zu inszenieren. Die Aufhetzungsbemühungen fielen jedoch kaum auf fruchtbaren Boden. Die meisten russischen Muttersprachler in der Ukraine „entpuppten sich…als ukrainische Patrioten“. Den Überfall glaubhaft als Hilfsaktion für eine angeblich verfolgte, unterdrückte russische Minderheit in Szene zu setzen, konnte somit nicht mehr gelingen. Debusmann schätzt die Lage mit Blick auf die große russische Minderheit in Lettland ähnlich ein. Auch hier dürfte sich einem Aggressor kaum die Chance bieten, sich in für die Weltöffentlichkeit glaubwürdiger Weise als selbstlose Schutzmacht zu maskieren. Die in Arnold Teichts Aufsatz über die Ukraine enthaltene Aussage, die Streitkräfte des Landes seien „nach Ausstattung und Fähigkeiten in keiner Weise in der Lage, das Staatsgebiet nachhaltig und durchhaltefähig zu verteidigen“ hat sich als nicht ganz zutreffend erwiesen. Trotz hoher Verluste können sich die ukrainischen Streitkräfte auch im vierten Kriegsjahr behaupten. Den mit großer militärischer Übermacht angreifenden Russen ist bislang lediglich die Besetzung von etwa 20 % des ukrainischen Staatsgebiets gelungen. Dabei hatte der ursprüngliche russische Operationsplan 2022 vorgesehen, das ganze Land binnen weniger Wochen zu besetzen. Die Verluste der russischen Streitkräfte nahmen so enorme Ausmaße an, dass Moskau sich gar genötigt sieht, nordkoreanische Verbände zur Unterstützung heranzuziehen. Die Beratungs- und Ausbildungsleistungen, die von Personal aus NATO-Staaten seit der illegalen russischen Besetzung der Krim 2014 erbracht worden sind, haben demnach erheblich zur Ertüchtigung der ukrainischen Streitkräfte beigetragen. Die internationalen Bemühungen um eine Beilegung des russisch-ukrainischen Konflikts nehmen im Aufsatz über die Ukraine breiten Raum ein. Sie waren schon seinerzeit schwierig, sind jedoch durch den russischen Angriffskrieg noch sehr viel komplizierter geworden. Durch Russlands Angriffskrieg wurde die EU genötigt, ihre bisherige Linie aufzugeben, „sich bei ihrem Krisenmanagement auf die nicht-militärische Dimension außenpolitischen Handelns“ zu beschränken. Das überfallene Land wird nun auch mit Waffensystemen und Munition unterstützt. Schwerer als die europäischen fielen allerdings die USUnited States-amerikanischen Unterstützungsleistungen für Kiew ins Gewicht. Der vorliegende Band erschien während Trumps erster Amtszeit. Die Befürchtung, die Teicht hier bereits über eine sich abzeichnende Abwendung der USAUnited States of America von Europa und die mögliche Infragestellung amerikanischer Sicherheitsgarantien artikuliert, scheint sich nun in Trumps zweiter Amtszeit zur Gewissheit zu verdichten. Man muss kein Schwarzmaler sein um zu ahnen, dass die Ukraine unter diesen Umständen einer sehr problematischen Zukunft entgegengeht. Teicht ist zuzustimmen, wenn er sich abschließend für eine Fortführung europäischer Unterstützung für die Ukraine ausspricht. Entscheidend ist dabei allerdings Teichts Hinweis, dass wirksame Unterstützung „eine erhebliche Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der EU-Bündnispartner“ voraussetzt. Ob die seit 2022 überall ertönende Rede von der Zeitenwende tatsächlich eine solche erhebliche – und vor allem dauerhafte – Verbesserung militärischer Fähigkeiten zur Folge hat, wird sich noch erweisen müssen. Osteuropa wird noch lange ein lohnender Gegenstand historischer und politischer Bildungsarbeit in der Bundeswehr bleiben. Der vorliegende Band stellt einen sehr guten Leitfaden für die Planung und Vorbereitung von Veranstaltungen der Politischen Bildung zu diesem Themenkreis dar. Angesichts der dramatischen Entwicklungen, die sich seit seiner Veröffentlichung 2018 in Osteuropa abgespielt haben, würde man ihm eine aktualisierte Neuauflage wünschen. Das war eine neue Folge von „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellten wir das Buch von Andreas Dittmann, Robert Riemer und Arnold Teicht: Osteuropa – Konflikte verstehen. Praxis-Handbuch vor. Es erschien im Jahr 2018 im Tectum-Verlag.