Operatives Denken bei Clausewitz, Moltke, Schlieffen und Manstein
Operatives Denken bei Clausewitz, Moltke, Schlieffen und Manstein
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Herzlich Willkommen zu „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebene Buch „Operatives Denken bei Clausewitz, Moltke, Schlieffen und Manstein vor“. Es erschien 1989. Bevor es 2013 im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften aufging, war das Militärgeschichtliche Forschungsamt 55 Jahre lang die zentrale Instanz der Bundeswehr für Fragen der Militärgeschichte. Die in den 80er Jahren vom Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Hans-Henning von Sandrart, angestoßenen Bemühungen um eine Wiederbelebung des operativen Denkens nahm das Militärgeschichtliche Forschungsamt 1989 zum Anlass, das vorliegende Werk zu veröffentlichen. Das Aufkommen von Kernwaffen hatte nach dem Zweiten Weltkrieg dem operativen Denken den Garaus gemacht. Welchen Sinn hätte es noch gehabt, weitläufige Operationen im Gelände zu planen, wenn das NATO-Verteidigungskonzept der „Massive Retaliation“ doch den flächendeckenden Einsatz von Nuklearwaffen vorsah? In den 70er und 80er Jahren verflog die Kernwaffen-Euphorie. Die NATO ersetzte „Massive Retaliation“ durch „Flexible Response“. Man betrachtete Kernwaffen mehr und mehr als Instrumente zur Abschreckung möglicher Angreifer, nicht mehr als erste Wahl auf dem Gefechtsfeld. Für den Fall, dass der Warschauer Pakt seine Panzerkolonnen Richtung NATO-Gebiet in Marsch setzen sollte, ging man nicht mehr von einer unmittelbaren nuklearen Eskalation aus. Wie der damalige Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, Brigadegeneral Günter Roth, im Vorwort zum vorliegenden Werk schreibt, bestand das Ziel nun darin, „das Risiko des…frühzeitigen Rückgriffs auf nukleare Optionen durch die Stärkung der konventionellen Komponente der Abschreckung zu reduzieren“. Unter dieser Maßgabe war es naheliegend, das zuvor scheinbar obsolete operative Denken wiederzubeleben. War ein konventioneller Krieg zu erwarten, der die nukleare Schwelle dauerhaft nicht überschreiten würde, dann war Führungskönnen wieder „ein wesentlicher Teil der Einsatzfähigkeit der Streitkräfte und damit ein wichtiges Element der Abschreckung“. Diese Erkenntnis, die mit der Zeitenwende von 1989/90 verlorenging, lässt sich auch nach der weniger erfreulichen Zeitenwende von 2022 wieder fruchtbar machen. Der Krieg, den Russland seitdem der Ukraine aufzwingt, führt jedermann vor Augen, dass in Europa jahrelange rein konventionell geführte Kriege leider wieder möglich sind. Zwar stoßen Putin und manche seiner Sprechpuppen seit Kriegsbeginn immer wieder wüste Drohungen aus, Russland könne jederzeit auch Atomwaffen einsetzen. Doch falls diese Drohungen überhaupt je glaubhaft waren, sind sie es immer weniger, je länger der Krieg andauert. Sie nutzen sich durch Wiederholung stark ab. Was den Einsatz von Atomwaffen angeht, gleicht die russische Führung dem sprichwörtlichen Hund, der zwar ständig bellt, aber nicht beißt. Dass Russlands aggressiv-expansiver Drang nach Westen in absehbarer Zeit zum Erliegen kommt, muss als sehr unwahrscheinlich gelten. Sollte dieser Drang auf NATO-Mitgliedsstaaten übergreifen, könnte das operative Denken für die Bundeswehr und ihre Partner in der NATO schlagartig sehr bedeutsam werden. Beim operativen Denken steht immer das Ziel im Mittelpunkt, durch überlegenes Führungskönnen einen an Truppenstärke überlegenen Gegner zügig auszumanövrieren und so einen langen Abnutzungskrieg zu vermeiden. Der vorliegende Band versammelt vier Aufsätze, in denen einerseits Überlegungen beleuchtet werden, die bedeutende Gestalten der preußischen und deutschen Militärgeschichte zum operativen Denken angestellt haben. Andererseits wird der deutsche Frankreichfeldzug des Jahres 1940 als historisches Beispiel einer gelungenen Operationsführung eingehend analysiert. Brigadegeneral Roth betrachtet in seinem Beitrag das operative Denken des großen Säulenheiligen der deutschen Kriegstheorie, Carl von Clausewitz, und dass des langjährigen Generalstabschefs im Kaiserreich, Alfred von Schlieffen, im Vergleich. Clausewitz war der Überzeugung, dass die Defensive eine stärkere Position sei als die Offensive. Er hatte diese Überzeugung 1812/13 gewonnen, als er im Dienst Russlands den Überfall Napoleons auf das Zarenreich miterlebte. Die Russen hielten sich defensiv, nutzten die Weite ihres Landes und ließen den kleinen Korsen ins Leere laufen. Wenige Monate nach Beginn der Invasion blieb ihm keine andere Wahl als sich zurückzuziehen. Russische Truppen setzten nach. Jetzt übernahmen sie die Offensive und machten den Feldzug zum Desaster für Napoleon. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung schrieb Clausewitz, es sei „der natürliche Gang im Kriege, mit der Verteidigung anzufangen und mit der Offensive zu enden“. Schlieffen hingegen war rund 80 Jahre später von seiner Erfahrung als Teilnehmer der Kriege von 1866 und 1870/71 geprägt, in denen zur Kriegseröffnung vorgetragene Offensiven Preußen bzw. Deutschland den Sieg gesichert hatten. Daher setzte der nach ihm benannte Operationsplan, der den von deutscher Seite im August 1914 eingeleiteten Kampfhandlungen zugrunde lag, auf sehr dynamisches offensives Vorgehen. Dass der Plan nicht aufging, lag letztlich an nicht vorhandenen Reserven. Bis Anfang September 1914 waren die deutschen Angriffsarmeen in Frankreich sehr weit vorgestoßen. Sie boten schließlich den französischen Kräften eine lange, ungedeckte Flanke, für deren Sicherung keine Reserven verfügbar waren. Auf genau diese Gefahr hatte schon Clausewitz aufmerksam gemacht: „Stehen an dem Punkt, an dem der Schwung des Angriffs aufhört, keine Reserven zur Verfügung, muss der Operationsplan aufgegeben werden“. Daraus leitete Clausewitz den guten, von Schlieffen indes nicht befolgten Rat ab, immer Reserven außerhalb des Wirkungsbereichs feindlichen Feuers bereitzuhalten. Ein Rat der heutzutage wohl infolge der technischen Entwicklung schwer zu befolgen sein dürfte, zieht man die Reichweiten heutiger Abstandswaffen in Betracht. Oberst Roland Foerster widmet sich in seinem Beitrag dem operativen Denken Generalfeldmarschall Helmut von Moltkes. Der Konstrukteur der Siege von Königgrätz 1866 und Sedan 1870 war ein pragmatisch denkender Mann der Tat. Theoretische Schriften zu verfassen war seine Sache nicht. Jüngere Generalstabsoffiziere, die gläubig an den Lippen des großen alten Mannes hingen, versuchten, aus seinen Aussagen allgemeingültige Regeln zur Operationsführung abzuleiten. Moltke war von der Unverzichtbarkeit strategisch-operativen Offensivdenkens überzeugt. „Nur die Offensive verleiht das Gesetz des Handelns“. Taktische Defensiven waren dabei freilich nicht ausgeschlossen, wenn die Lage sie erforderte. Beim Aufmarsch setzte er auf die Devise ‚getrennt marschieren – vereint schlagen‘. Bis heute gültig, schreibt Oberst Foerster 1989, ist sein Beharren auf möglichst exakter Planung des Vorgehens bis zum Beginn der Kampfhandlungen. Im Lauf des Gefechts ergeben sich unvermeidlich unvorhergesehene Entwicklungen. Dann kommt es für den militärischen Führer darauf an, mit kühlem Kopf die der Lage entsprechenden Entschlüsse zu fassen und konsequent umzusetzen. Gemäß dem Moltke-Wort: „Fester Entschluss und beharrliche Durchführung eines einfachen Gedankens führen am sichersten zum Ziel“. Dem lässt sich auch im Jahr 2025 kaum widersprechen. Abgerundet wird der Band durch zwei Beiträge, in denen Brigadegeneral Roth und der damalige Major und spätere Oberst Karl-Heinz Frieser den Frankreichfeldzug von 1940 in den Blick nehmen. 1939 hatten Frankreich und Großbritannien Garantieerklärungen für die Unabhängigkeit Polens abgegeben, das allen Grund hatte, einen Überfall seitens Deutschlands zu befürchten. Nachdem der Überfall am 1. September erfolgt war, hatte Hitler trotzdem blauäugig angenommen, Frankreich und Großbritannien würden untätig bleiben. Er war völlig überrascht, als beide Staaten Deutschland am 3. September 1939 den Krieg erklärten. Die Kräfteverhältnisse lagen zu Ungunsten Deutschlands. Die Wehrmacht konnte rund 2 400 Kampfpanzer aufbieten, während Frankreich und das dort stehende britische Expeditionskorps über insgesamt 3 400 verfügten. Technisch waren die deutschen Panzermodelle den französischen und britischen keineswegs überlegen, eher war das Gegenteil der Fall. Für eine Offensive gegen Frankreich gab es im September 1939 überhaupt keinen Operationsplan. In fieberhafter Eile begann man im Oberkommando des Heeres (OKH) nun mit dessen Ausarbeitung. Bis Februar 1940 wurden mehrere Fassungen erstellt und wieder verworfen. Man konnte sich nicht zu einer eindeutigen Schwerpunktbildung entschließen. Stattdessen wollte man auf breiter Front vorrücken und den Schwerpunkt anschließend in Abhängigkeit vom Verlauf des Gefechts durch Zuführung von Reserven bilden. Zu den entschiedenen Kritikern dieser Planung gehörte Generalleutnant Erich von Manstein. In mehreren Eingaben ans OKH sprach er sich energisch dafür aus, die Panzerwaffe, die bislang immer nur taktisch auf Divisionsebene verortet gewesen war, zum operativen Faktor aufzuwerten. Eigenständige Panzerkorps sollten als Angriffskeil durch die Ardennen vorstoßen, dann nördlich eindrehen und die entlang der französisch-belgischen Grenze dislozierten französisch-britischen Kräfte abschneiden und schlagen. Das OKH wies diese Idee als zu riskant zurück. Durch die Beharrlichkeit, mit der er seine Idee vertrat, machte sich Manstein in der Heeresführung nicht beliebt. Es gelang seinen Gegnern, ihn auf eine Verwendung als Korpskommandeur in Ostpreußen abzuschieben. Im Februar 1940 hatte er Gelegenheit, am Rande eines dienstlichen Abendessens seine Idee Hitler zu erläutern. Der Diktator war sofort Feuer und Flamme für Mansteins Vorschlag und wies das OKH an, einen entsprechenden Operationsplan zu erstellen. Der Feldzugsplan wird also zurecht als Manstein-Plan bezeichnet, auch wenn Manstein selbst an der folgenden Feinausplanung nicht beteiligt war. In der Generalität blieb der Plan alles andere als unumstritten. Generaloberst Fedor von Bock brachte die Ansicht vieler seiner Kameraden auf den Punkt, als er im April 1940 dem Generalstabschef des Heeres schrieb: „Sie werden…15 km entfernt an der Maginot-Linie vorbeikriechen und hoffen, dass die Franzosen untätig zusehen. Sie stopfen die Masse der Panzer auf die schmalen Straßen der Ardennenberge, als gäbe es keine Luftstreitkräfte! Und dann hoffen Sie, eine Operation bis zur Küste durchzuführen mit einer offenen, 320 km langen Südflanke“. Die diese Einwände vorbrachten, waren erfahrene Truppenführer, und die Einwände durchaus nicht unberechtigt. Der entscheidende Punkt aber, in dem Manstein im Gegensatz zu seinen Kritikern richtiglag, war die Beurteilung der gegnerischen Lage. Das französische Oberkommando hielt erfolgreiches Operieren mit Panzern im waldreichen Mittelgebirge der Ardennen für völlig ausgeschlossen. Unmittelbar südlich der Ardennen begann die Maginot-Linie, die man in Paris für unüberwindlich hielt. Fixiert auf die Erfahrung des Ersten Weltkriegs war sich die französische Führung sicher, der Hauptstoß eines deutschen Angriffs werde sich wieder in Flandern abspielen. Tatsächlich fanden hier deutsche Truppenbewegungen statt, woraufhin französische und britische Truppen in großer Zahl nach Belgien vorrückten. In der Zwischenzeit gelang der Wehrmacht bei Sedan der Übergang über die Maas. Es hatte zwar wegen der wenigen verfügbaren Straßen gewisse Schwierigkeiten beim Aufmarsch in den Ardennen gegeben, die jedoch im Ergebnis nicht ins Gewicht fielen. Beim Maas-Übergang stand zu wenig Feuerunterstützung der Artillerie zur Verfügung. Die Luftwaffe sprang ein. In ständigen Angriffswellen wurden ihre Sturzkampf-Bomber zur „vertikalen Artillerie“. Die schlecht geführten britisch-französischen Luftstreitkräfte konnten die stark mit Flugabwehr gesicherte deutsche Brücke über die Maas nicht zerstören. Auch das heute als fake news bekannte Phänomen spielte der Wehrmacht in die Hände. Unter den Franzosen verbreitete sich das Gerücht, deutsche Truppen stünden schon im westlich von Sedan gelegenen Bulson. Diese Falschmeldung bewirkte eine Massenpanik und schlug die gesamte französische 55. Infanteriedivision in die Flucht. Die Panzertruppen setzten am 14. Mai 1940, dem fünften Tag des Feldzugs, über die Maas. Manche Kommandeure waren der Ansicht, man solle nun halten und die Infanterie aufschließen lassen. Andere, deren prominentester Vertreter General Heinz Guderian war, wollten die Gunst der Stunde nutzen und so schnell wie möglich weiter vorstoßen. Letztere setzten sich durch. Berühmtheit erlangte in den nächsten Tagen vor allem Generalmajor Erwin Rommel. Er raste mit Teilen seiner Division bis zum 17. Mai nach Nordwesten, sicherte einen strategisch wichtigen Übergang über die Sambre und machte bei lediglich 36 Mann eigenen Verlusten rund 10 000 französische Gefangene. Die operative Reserve des französischen Heeres wurde in wenigen Tagen fast völlig zerschlagen. Von vier Panzerdivisionen blieb nur eine einsatzbereit. Deren Kommandeur, der spätere Staatspräsident Charles de Gaulles, griff zwar beherzt an, konnte aber gegen die deutsche Übermacht nichts ausrichten. Das sehr schnelle Vorrücken der Panzer ließ eine große Distanz zu den nicht motorisierten Verbänden entstehen. Briten und Franzosen kamen auf den naheliegenden Gedanken, in diese rund 40 km breite Lücke vorzustoßen um, wie Premierminister Churchill sich ausdrückte, „der deutschen Schildkröte den Kopf abzuhauen“. Ein eher unpassendes Sprachbild, ist doch die Schildkröte ein notorisch langsames Tier, während die deutsche Panzertruppe alles andere als langsam war. Der beabsichtigte Zangenangriff scheiterte, weil die französische Führung es nicht vermochte, schnell genug die nötigen Truppen zusammenzuziehen. So fand am 21. Mai kein Zangenangriff, sondern leidglich ein britischer Angriff von Norden her statt, den die Wehrmacht abwehren konnte. Am selben Tag erreichten deutsche Verbände den Ärmelkanal. Die alliierten Verbände in Belgien waren nun endgültig abgeschnitten, der Feldzug für Frankreich verloren. In seiner abschließenden Betrachtung hebt Major Frieser hervor, dass für das Ergebnis des Feldzugs neben dem gelungenen Überraschungsmoment des Durchbruchs durch die Ardennen auch das Führen mit Auftrag entscheidend war. Kommandeure wie Guderian oder Rommel handelten mit großer Entscheidungsfreude im Sinne ihrer Aufträge und konnten „von vorne führend blitzschnell auf jede Schwäche des Gegners reagieren“. Welche operativen Lehren lassen sich aus dem Westfeldzug von 1940 für unsere Gegenwart ziehen? Da die Offensive das Gesetz des Handelns verleiht, scheint – vordergründig betrachtet – die NATO als reines Defensivbündnis gegenüber potentiellen Aggressoren im Nachteil. Doch zeigen genügend Beispiele, auch aus jüngster Zeit, dass ein gut organisierter Verteidiger einen Angriff zum verlustreichen Misserfolg für den Angreifer machen kann. Diese Erfahrung machten etwa die russischen Streitkräfte 2022 in der Ukraine, wo ihre Absicht, einen kurzen, triumphalen Feldzug durchzuführen, kläglich scheiterte. Anders als Frankreich 1940 wäre die NATO zudem durch die heutigen Möglichkeiten der Aufklärung über Truppenstärken und beabsichtigte Schwerpunktbildung eines aufmarschierenden Gegners im Bilde und würde sich darauf einzustellen wissen. Ein Überraschungsmoment wäre für den potentiellen Gegner, wenn überhaupt, nur außerordentlich schwer zu erreichen. So ist die wesentliche Lehre, die sich aus dem Feldzug von 1940 ziehen lässt, dass über alle waffentechnischen Neuerungen und politischen Systembrüche hinweg das Führen mit Auftrag immer noch als unverzichtbares Instrument im Gefecht angesehen werden muss. Entsprechend ausgebildete Unterführer, die die sich dynamisch entwickelnden Lagen im Gefecht richtig erfassen und selbständig den besten Weg zum im Auftrag vorgegebenen Ziel beschreiten, können den entscheidenden Unterschied machen. Das war „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute mit der Vorstellung das vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebene Buch „Operatives Denken bei Clausewitz, Moltke, Schlieffen und Manstein“. Es erschien 1989.