Angelesen - Audio-Buchjournal

Mythos und Wirklichkeit

Mythos und Wirklichkeit

Datum:
Lesedauer:
9 MIN

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Herzlich Willkommen zu „Angelesen!“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute mit der Vorstellung des Buches von Gerhard P. Groß, „Mythos und Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d.Ä bis Heusinger“. Es erschien 2012 im Schöningh-Verlag. Das operative Denken erlebte seine Blütezeit im deutschen Militär zwischen den Reichseinigungskriegen 1866-1871 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Deutschen Reich endete auch die große Zeit des operativen Denkens, das in der Tat etwas originär Preußisch-Deutsches war. Zurecht weist Groß darauf hin, dass Briten und Amerikaner in den beiden Weltkriegen fochten und siegten, ohne ihre Offiziere jemals im operativen Denken geschult zu haben. Von den drei bekannten Ebenen des militärischen Denkens und Handelns ist die operative die jüngste. Die mit Abstand älteste ist die taktische. Schon im Altertum bestand ein klar umrissenes Verständnis von Taktik als der „Fähigkeit, Märsche durchzuführen, Lager zu errichten, Heere zusammenzuziehen und Soldaten zur Schlacht aufzustellen“. Erst sehr viel später, nämlich ab dem 16. Jahrhundert, prägte sich die strategische Ebene aus. Ihre exakte Definition ist seitdem im Fluss. Groß definiert sie bündig als die „einheitliche Führung der Streitkräfte eines Staates oder Bündnisses auf einem oder mehreren Kriegsschauplätzen mit dem Ziel der Kriegsentscheidung“. Die diesen beiden Ebenen zwischengeschaltete Ebene des operativen Denkens lässt sich definieren als Nachdenken über „bestimmte Faktoren…wie Zeit, Raum und Kräfte im Zusammenhang mit Einsatz und Führung größerer Truppenverbände auf einem Kriegsschauplatz zur Durchsetzung strategischer Zielvorgaben“. Dass das operative Denken ausgerechnet in der preußisch-deutschen Armee entstand, hängt aufs Engste mit den Besonderheiten deutscher Geschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen. Die Entwicklung der politischen Großwetterlage in Europa, vor allem die Annäherung zwischen Frankreich und Russland, machten es für das Deutsche Reich zunehmend wahrscheinlich, im Ernstfall Krieg an zwei Fronten gegen eine zahlenmäßige Übermacht führen zu müssen.    Um aus solcher Lage trotz Unterlegenheit siegreich hervorzugehen, setzten die Planer im Generalstab auf Elemente, die sich in den Kriegen von 1866 gegen Österreich und 1870/71 gegen Frankreich bewährt hatten: schnelle Beweglichkeit, Initiative, Schwerpunktbildung, Überraschungsmoment, Umfassung des Gegners; Generalfeldmarschall Helmut von Moltke, der Architekt der Siege von 1866 und 1870/71, sah die perfekte Operation gelungen, „wenn die eigenen, getrennt marschierenden Verbände konzentrisch auf die Front und die Flanke der gegnerischen Kräfte stießen“. Das hatte in den Schlachten von Königgrätz und Sedan funktioniert und den Gegnern kriegsentscheidende Verluste zugefügt. Der alte Moltke war freilich Realist genug zu wissen, dass dies glückliche Ausnahmefälle gewesen waren und dass es kein Patentrezept gab, das den Sieg unter allen Umständen hätte garantieren können. Der getrennte Anmarsch der eigenen Großverbände Richtung Gefechtsfeld erforderte eine neue Art von Führung. Die Zeiten, in denen ein Feldherr von seinem sprichwörtlichen Hügel aus, das gesamte Kampfgeschehen überblickt und dirigiert hatte, waren vorbei. Ab jetzt wurde mit Auftrag geführt. Das bedeutete größere Handlungsfreiheit, aber auch größere Verantwortung der nachgeordneten Führungsebenen. Ab jetzt hatte jeder „kommandierende General…die Verpflichtung, den Gedankengang des obersten Führers sich zu eigen zu machen“. So drückte es Generalfeldmarschall Alfred von Schlieffen aus, der ab 1891 15 Jahre den Generalstab leitete. Jedem, der sich auch nur oberflächlich für deutsche Militärgeschichte interessiert, ist sein Name bis heute wegen des mit ihm verbundenen Plans ein Begriff. Schlieffens Operationsplan setzte darauf, einen lang andauernden Zweifrontenkrieg durch sehr rasche Niederwerfung eines der beiden Gegner, nämlich Frankreichs, zu verhindern. Eine „Folge von großen grenznahen Umfassungsschlachten“ sollte die französischen Streitkräfte schachmatt setzen. Anschließend sollten die in Frankreich nicht mehr benötigten Truppen an die östliche Grenze geschafft werden, wo bis dahin nur ein Bruchteil des deutschen Heeres zur Abwehr russischer Angriffe eingeplant war. Dieser ausgeklügelte Plan ging bekanntlich nicht auf. Die Gründe dafür bleibt der Autor dem Leser nicht schuldig. Erstens dient operatives Denken grundsätzlich immer der Durchsetzung strategischer Ziele. Noch so klug ausgearbeitete Operationspläne können eine mangelnde oder fehlerhafte Strategie nicht wettmachen. Das Deutsche Reich zog 1914 praktisch ohne Strategie in den Krieg. Das lag an institutionellen Schwächen und vor allem an mangelnder Koordination. Der Generalstab des Heeres war beileibe keine allmächtige Institution, die in Fragen der Landesverteidigung „durchregieren“ hätte können. Seine Zuständigkeit beschränkte sich auf die Operationsplanung. Eine laufende Abstimmung mit den anderen Instanzen des Kriegswesens fand aber nicht statt. Der Generalstab ließ nicht nur die Marineleitung und die militärische Führung des Bundesgenossen Österreich-Ungarn über seine Planungen im Unklaren. Auch das preußische Kriegsministerium wurde durch Schlieffen in dessen 15 Amtsjahren kein einziges Mal über den Planungsstand informiert – obwohl es „für die personelle und materielle Rüstung zuständig war“. Zudem scheiterte die beabsichtigte blitzartige Überrumpelung Frankreichs schlicht an der unzureichenden Geschwindigkeit der Truppenbewegung. Zwar gehörte das deutsche Schienennetz damals zu den besten der Welt, was Bahnnutzende unserer Tage sich kaum noch vorstellen können. Die Motorisierung der Truppe für Straße und Gelände war hingegen sträflich vernachlässigt worden. Das tägliche Marschpensum der Infanterie war zweifellos beeindruckend, konnte aber nicht über Wochen das Tempo halten, das im Schlieffenplan vorgesehen war. Nach 1918 hielt die Reichswehr an den bisherigen Elementen operativen Denkens fest. Hinzu kam die Idee des Durchbruchs, die bei den Operateuren zu Kaisers Zeiten wenig gegolten hatte und nun zunehmend im Ansehen stieg. Durchbruch mit anschließender operativer Umfassung galt nun als das Nonplusultra. Reichswehr und Wehrmacht maßen weiterhin der Geschwindigkeit der Operationen große Bedeutung bei. „Ein in sich abgeschlossenes Blitzkriegskonzept existierte jedoch bei Kriegsbeginn 1939 nicht“. Die Wehrmacht war insgesamt nach Ausrüstung und Ausstattung auch nicht auf Blitzkrieg ausgelegt. Von 157 Heeresdivisionen waren lediglich 16 voll motorisiert. „In der Realität war das deutsche Heer eine Pferdearmee“. Außerdem hatten die meisten 1939 beim Überfall auf Polen eingesetzten Soldaten nur eine kurze und unzureichende Ausbildung durchlaufen. Dass der Feldzug in Frankreich im Jahr darauf ein militärischer Erfolg wurde, lag nicht nur an dem vom späteren Generalfeldmarschall Erich von Manstein ersonnenen Operationsplan, der „unter geschickter Nutzung von Raum und Zeit den Angriff im Schwerpunkt an einer für den Gegner völlig unerwarteten“ Stelle vorsah. Entscheidend war auch, dass man zwischen Oktober 1939 und Mai 1940 den Ausbildungsstand der Truppe erheblich verbessert hatte. Auch der Überfall auf die Sowjetunion 1941 war als kurzer Feldzug von vier bis fünf Monaten geplant. Hier lag die Fehleinschätzung zugrunde, die Rote Armee sei kein ernstzunehmender Gegner. Trotz Anfangserfolgen stellte sich schnell heraus, dass der Operationsplan nicht aufging. Nicht nur hatte man den Gegner unterschätzt. Der Operation mangelte es auch an einer überzeugenden Schwerpunktbildung. Zudem war – wie schon im Ersten Weltkrieg – die Logistik nicht angemessen berücksichtigt worden. In einem so weitläufigen Operationsgebiet wie der Sowjetunion wurde das zu einem ernsten Problem. Da der Feldzug sehr viel länger dauerte als beabsichtigt, sank der Motorisierungsgrad der Wehrmacht allmählich wegen Mangel an Betriebsstoff. Der der Roten Armee stieg beständig, nicht zuletzt durch umfangreiche Lieferungen von Fahrzeugen und Betriebsstoff aus den USAUnited States of America. Nach der katastrophalen Niederlage in Stalingrad war es im März 1943 wiederum Manstein, dem in einer kühnen Operation die Vernichtung größerer sowjetischer Verbände gelang. Ohne diesen operativen Erfolg wäre die Ostfront bereits 1943 zusammengebrochen. Hitler hatte von Manstein diese Operation erst nach längerem Zögern genehmigt. Er warf „seinen Generalen nicht zu Unrecht vor, sie dächten lediglich operativ und nicht gesamtstrategisch“. Freilich verfügte er selbst nicht über die strategische Begabung, dies auszugleichen. Somit war der Ausgang des Feldzugs absehbar. Am deutschen Krieg gegen die Sowjetunion lässt sich gut erkennen, dass das operative Denken durch die schiere Masse der aufgebotenen Truppen an eine Grenze stieß. In den ersten Kriegsmonaten gelang der Wehrmacht eine Reihe größerer Kesselschlachten, durch die der Roten Armee enorme Verluste entstanden. Sie konnte diese Verluste aber ersetzen. So „reduzierten sich Schlachten, die früher Entscheidungscharakter hatten, letztlich zu ordinären Schlachterfolgen, ohne…strategische Auswirkungen hervorzurufen“.  Über das massenmörderische Treiben der Einsatzgruppen im Hinterland war die Wehrmachtsführung natürlich im Bilde. Sie hatte nichts einzuwenden und sah es als Beitrag zur Sicherstellung ihrer Operationsfreiheit. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang die Begriffswahl des Autors, der Krieg gegen die Sowjetunion sei zu einem Vernichtungskrieg „entartet“. Er ist keineswegs zu einem solchen entartet, sondern war durch Hitler von Anfang an als ein solcher konzipiert. Für die ab 1955 aufgestellte Bundeswehr galt in jeder, auch in operativer Hinsicht eine ganz andere Geschäftsgrundlage als für des Kaisers oder des sogenannten „Führers“ Soldaten. Einen Generalstab als für Operationsplanung zuständige Dienststelle gibt es in der Bundeswehr nicht mehr. Durch die bundesdeutsche Mitgliedschaft in der NATO bestand das Risiko des Zweifrontenkriegs nicht mehr. Es ging „nicht mehr um schnelle Offensiven ins Feindesland, sondern um Verteidigung zur Sicherstellung eines langsamen Potentialaufwuchses“. Hätte der Warschauer Pakt angegriffen, hätte sich der Krieg unweigerlich auf dem Gebiet der Bundesrepublik abgespielt. Folgerichtig plante der erste Generalinspekteur der Bundeswehr, General Adolf Heusinger, in diesem Fall so schnell wie möglich die Initiative zu gewinnen und das Kampfgeschehen auf das Territorium der DDRDeutsche Demokratische Republik zu verlagern. Eine neue Herausforderung stellten die Kernwaffen dar. Die Heeresführung ging davon aus, dass hoch bewegliche, stark gepanzerte und hinreichend aufgelockert dislozierte Verbände auch nach dem Einsatz taktischer Atomwaffen noch operationsfähig wären.  In der Luftwaffe wurde diese Auffassung nicht geteilt. Ihr erster Inspekteur, General Josef Kammhuber, kommentierte trocken, operieren könne man nach beiderseitigem Einsatz taktischer Atomwaffen allenfalls noch in Krankenhäusern. Groß hält die Auffassung der Luftwaffenführung für realistischer als die der Heeresführung. Letztere hatte in den entsprechenden Planspielen nämlich die „Auswirkungen der Kriegsführung auf die Infrastruktur und die Bevölkerung bewusst ausgeklammert“. Anfang der 1960er Jahre hatte sich Kammhubers Einsicht auch im Heer durchgesetzt. Die Heeresvorschrift zur Truppenführung stellte jetzt klar, dass operative Führung nicht mehr Sache der Bundeswehr, sondern der Führungsebene der NATO sei. Das operative Denken in den deutschen Streitkräften schien damit an sein Ende gelangt.   In den 1980er Jahren versuchte der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Hans Henning von Sandrart, auf eine Wiederbelebung des operativen Denkens hinzuwirken. Er sah die Möglichkeit dazu, weil in den USAUnited States of America mittlerweile eine andere Bewertung von Kernwaffen vorherrschte. Anders als in den 1960er Jahren sah man nun in erster Linie die politische Dimension dieser Waffensysteme. Man betrachtete sie weniger als Waffen, die im Ernstfall die Entscheidung auf dem Gefechtsfeld herbeiführen würden, sondern eher als „strategische Instrumente der politischen Eskalationskontrolle“. Daher wollte von Sandrart im Verteidigungsfall den weiteren Verlauf des Gefechts nach der ersten großen Abwehrschlacht auf der Basis der klassischen Elemente des operativen Denkens gestalten. 1987 legte er die entsprechenden Überlegungen in Form der Leitlinie für die operative Führung von Landstreitkräften in Mitteleuropa vor. Dieses Dokument wird demnächst in der Reihe Das historische Dokument näher vorgestellt werden. Von Sandrart hatte bei seinen Überlegungen den Zeitgeist nicht auf seiner Seite. Wenige Jahre nach Entstehung seiner Leitlinie brach der Warschauer Pakt zusammen. Alles frohlockte über die „Friedensdividende“. Operatives Denken schien nun erst recht von vorgestern und war nicht mehr gefragt. Vieles spricht dafür, das operative Denken heute im Angesicht des aggressiven Ausgreifens Russlands Richtung Westen neu zu beleben. Das war „Angelesen!“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute mit der Vorstellung des Buches von Gerhard P. Groß, „Mythos und Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d. Ä bis Heusinger“ vor. Es erschien 2012 im Schöningh-Verlag.

von Christoph Kuhl

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