Militärsoziologie-Transkript
Militärsoziologie-Transkript
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Frau Kraft: Sicherheitspolitik nimmt angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in der öffentlichen Aufmerksamkeit inzwischen einen hohen Stellenwert ein. Personen mit Expertise äußern sich zu militärischen Strategien, Bündnissen, Militärtechnik, Beschaffungsinitiativen und so weiter. In unserem heutigen Podcast soll es um die soziologische Auseinandersetzung mit militärischen Themen gehen. Nicht nur, aber auch mit Blick auf aktuelle Sicherheitspolitik. Hier ist Zugehört, der Podcast des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute spreche ich mit meiner Kollegin vom ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, der Soziologin Frau Doktor Nina Leonhard, über das Thema: „Was ist und wozu braucht es eine Militärsoziologie?“. Mein Name ist Ina Kraft und ich bin Politikwissenschaftlerin am ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Nina, heute soll es um die Militärsoziologie gehen. Lass uns mal mit dem was ist beginnen. Der Name legt es nahe. Es ist eine Unterart der Soziologie. Kannst du uns zum Einstieg bitte erklären, womit sich die Soziologie beschäftigt?
Frau Leonhard: Die Soziologie als Fachdisziplin beschäftigt sich, um es mal ganz allgemein zu beschreiben, mit der Analyse sozialer Beziehungen, unterschiedlichen Formen, sowohl was die individuelle Ebene oder Zweierbeziehungen, Dreierbeziehung angeht, als auch das große Ganze, was man dann als Gesellschaft bezeichnen könnte.
Frau Kraft: Und was ist das Besondere an der Militärsoziologie?
Frau Leonhard: Die Militärsoziologie, könnte man sagen, also im Fachjargon würde man das unter den Bereich der speziellen Soziologie einordnen. Im Bereich der Soziologie wird gemeinhin unterschieden zwischen Ansätzen, Konzepten, Hypothesen, die sich auf tatsächlich die Grundlagen von sozialen Beziehungen beziehen. Und dann gibt es diese sogenannten speziellen Soziologien, die sich bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche oder bestimmte soziale Felder angucken. Wie zum Beispiel Gesundheitssoziologie, Wirtschaftssoziologie oder eben auch Militärsoziologie, sprich, wo die Streitkräfte in all ihren Formen und Verbindungen zum gesellschaftlichen Umfeld analysiert werden.
Frau Kraft: Aber kann nicht alles Militärische auch irgendwie in den anderen Soziologien, in den anderen -soziologien, Du hast ja gerade schon ein paar genannt, untergebracht werden? Also könnte nicht zum Beispiel die politische Soziologie fragen: „Wählen Angehörige der Streitkräfte anders als andere Wählergruppen? Die Organisationssoziologie könnte fragen: “Führungsstil in nationalen Stäben, sind die, unterscheiden die sich zum Beispiel von anderen Führungsstilen oder was ist das Besondere daran? Oder die Techniksoziologie? Die hat sicherlich auch etwas zu sagen über künstliche Intelligenz in Kriegen. Wozu braucht es dann noch mal dezidiert eine Militärsoziologie? Was ist das ganz Besondere am Militär, dass es, sage ich mal, eine eigene Soziologie verdient? Als Subdisziplin.
Frau Leonhard: Na, ich glaube, es geht ein bisschen um unterschiedliche Perspektivierung. Natürlich kann man aus gewaltsoziologischer, organisationssoziologischer oder wie du gesagt hast, techniksoziologischer Perspektive auch die Streitkräfte analysieren, gleichzeitig. Da geht es dann vor allem darum, das Militär, die Streitkräfte als einen Teilbereich im Vergleich zu anderen zu sehen und zu gucken, was ist das Spezielle hier im Vergleich zu anderen, sagen wir mal zum Beispiel Organisationen. Wenn man den Ausgangspunkt wählt, wie funktionieren Streitkräfte, wie sind sie eingebunden? Was ist das Besondere? Dann glaube ich bewegt man sich eher im Bereich der Militärsoziologie, das heißt, da steht das Interesse im Vordergrund, etwas über das Militär, über Streitkräfte an und für sich zu erfahren und dann erst in zweiter Linie, klar, Streitkräfte sind auch Organisationen. Für Streitkräfte spielt technologische Entwicklungen eine große Rolle und da nimmt man sich dann Ansätze aus anderen Bereichen. Insofern ist das auch weniger, würde ich sagen, eine abgeschlossene Kategorisierung, sondern eher ein bisschen eine Definition, welche Perspektive man einnimmt und was einem vor allem wichtig erscheint.
Frau Kraft: Du bist Soziologin. Erzähl doch bitte einmal, wie du fachlich zum Forschungsgegenstand Militär gekommen bist.
Frau Leonhard: Das ist, wie das vermutlich auch bei anderen Kolleginnen ab und zu der Fall ist, ist eher ein bisschen Zufall gewesen. Ich habe mich im Rahmen meines Studiums, meiner Promotion mit anderen Themen beschäftigt und bin dann nach Abschluss der Promotion, habe mich für verschiedene Stellen beworben und da ich einen Kollegen kannte, der damals am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr schon tätig war, weil wir gemeinsam mit Interviewauswertungen uns beschäftigt haben, da habe ich erfahren, da gibt es eine Stelle, da habe ich mich beworben und da bin ich eingestellt worden und insofern bin ich auf die Art und Weise tatsächlich zum Militär, zur Beschäftigung mit dem Militär gekommen, hatte aber vorher selbst keine bisherigen Anknüpfungspunkte.
Frau Kraft: Da du dabeigeblieben bist, gehe ich davon aus, dass du den Forschungsgegenstand immer spannender gefunden hast.
Frau Leonhard: Ja, in der Tat. Das ist ja immer so die Frage „Warum sucht man sich etwas aus?“. Entweder, weil man schon vielleicht einen persönlichen Bezug dazu hat oder eine bestimmte Frage, die einen von vornherein interessiert hat. In meinem Fall war das eher umgekehrt, weil für mich Militär, Streitkräfte, in dem Fall die Bundeswehr, etwas sehr Neues, etwas sehr Fremdes waren, zu Beginn und auch das hat ja einen bestimmten Reiz, also eine Welt, eine soziale Welt, zu der ich wenig Bezug hatte zum damaligen Zeitpunkt und natürlich auch etwas, das gilt natürlich auch für andere Organisationen, Spezialbereiche, wenn man da nicht tätig ist, wo man nicht besonders sich nicht besonders gut auskennt. Und insofern gerade würde ich sagen, als Sozialwissenschaftlerin, Soziologin ein sehr, sehr spannendes Feld. Und vielleicht noch ein weiterer Punkt. Das geht so ein bisschen weg vom persönlichen Interesse oder auch nur Spaß daran, Dinge auch für sich zu entdecken. Das Militär zum damaligen Zeitpunkt, das ist jetzt 20 Jahre her, gehörte mit zu den Bereichen, die jetzt sozialwissenschaftlich nicht, sagen wir mal, überbeforscht waren. Das hat sich inzwischen schon einiges geändert, aber das ist jetzt als Wissenschaftlerin, ist natürlich auch schön oder auch interessant, spannend und natürlich auch eine Motivation, Zugang zu einem Feld zu bekommen, Analysen durchzuführen, wovon man weiß, ah, da gab es nicht schon ganz, ganz viele andere Leute, die genau diese Fragen schon untersucht haben.
Frau Kraft: Und ein Feld, was auch geschlossen ist, das ist ja jetzt nicht besonders einfach, wenn man an einer Universität studiert, dort eine Forschungsarbeit erstellt, Zugang zum Militär zu bekommen, zu den Streitkräften, zur Bundeswehr.
Frau Leonhard: Das stimmt. Das ist natürlich vor allem dann, wenn man im Rahmen von einer Ressortforschungseinrichtung arbeitet, hat man andere Zugangsmöglichkeiten, wie du sagst, zu diesem Feld. Natürlich man kann man sich auch mit militärischen oder Streitkräfte bezogenen Fragen auch beschäftigen, wenn man jetzt nicht in einer Ressortforschungseinrichtung der Bundeswehr arbeitet. Aber klar, durch den Kontakt und an den Einrichtungen, an denen ich bisher auch tätig war, arbeiten ja auch Soldatinnen und Soldaten und da kriegt man natürlich auch noch mal etwas näher mit, was da eine Rolle spielt. Und das ist natürlich auch ein ganz guter Ausgangspunkt für die eine oder andere Untersuchungsfrage.
Frau Kraft: Du hast mit einer Kollegin, Ines-Jaqueline Werkner, ein Lehrbuch zur Militärsoziologie herausgegeben. Das ist im Frühjahr 2023 erschienen, das heißt „Militärsoziologie, eine Einführung“. Ich blättere zum Inhaltsverzeichnis und sehe, das Buch ist in drei Teile gegliedert: „Militär und Gesellschaft“, „Organisation“, „Soldatinnen und Soldaten“. Das korrespondiert ja mit den drei sozialwissenschaftlichen Analyseebenen Makro, Meso, Mikro. Was sind so typische Fragen, die in der Militärsoziologie auf diesen Ebenen behandelt werden? Also, dass man zwar ein bisschen greifbar macht, womit sich die Militärsoziologie dann im Konkreten beschäftigt.
Frau Leonhard: Okay, ich fange mal mit dem ganz Konkreten an und das ist dann, glaube ich, am einfachsten zu greifen mit der Mikroebene der oder des einzelnen Soldaten, der einzelnen Soldatin. Was da zumindest ein klassisches Thema ist, ist das, was man Sozialisation bezeichnet, militärische Sozialisation. Das heißt, anders formuliert, wie macht man Soldaten oder wie werden Soldaten, Soldatinnen gemacht? Wie führt man Individuen, die Militär da vorher nicht kennen? Wie inkludiert man die in die Organisationen, wie bringt man denen bestimmte Dinge bei? Und das Besondere bei Streitkräften, im Vergleich jetzt zu anderen Organisationen, ist natürlich die ja, die die Sozialisation hin dazu, dass man bereit ist, sein Leben und seine Gesundheit im Ernstfall, ja, zu riskieren, auch einzusetzen, was ja eigentlich dem gesunden, individuellen, ja, Bedürfnis nach Überleben widerspricht. Und da haben Streitkräfte bestimmte Mechanismen ausgebildet und das ist zumindest eines dieser Felder, die mit denen man sich auf der Mikroebene beschäftigt. Wenn wir ein bisschen weiter gehen, Mesoebene, das ist eben in der Organisation, der Profession, da ist ein wichtiger Bereich, auch mit der Frage genau, inwiefern unterscheidet sich denn das Militär von anderen Organisationen, etwas, was kennzeichnet Militärkultur? Was ist das Spezifische, spezifische Regeln, Vorstellungen, Rituale, die in Militärorganisationen existieren? Wie sehen die aus? Wie zeigen die sich? Wie werden die institutionalisiert? Und vor allem, das ist ein Feld, was jetzt, wenn wir hier für Deutschland angucken, was im Rahmen der Auslandseinsätze, Stichwort Afghanistaneinsatz, etwa auch eine ganz wichtige Rolle gespielt hat für eine ganze Reihe von Untersuchungen, nämlich, um zu fragen, inwiefern verändert sich das Militär durch eine neue Aufgabe zur damaligen neuen Aufgabe der Auslandseinsätze? Analog könnte man jetzt heutzutage fragen, inwiefern verändert sich jetzt auch wieder die Militärkultur der Bundeswehr durch die verstärkte Ausrichtung auf Verteidigung und Bündnisverpflichtungen und um die dritte Ebene, die Makroebene, zu erwähnen. Klassischerweise ist im Bereich der Militärsoziologie, ist die Frage der sogenannten zivil-militärischen Beziehungen, steht da im Vordergrund, die kann man in unterschiedlicher Art und Weise ausbuchstabieren in dem stärker politikwissenschaftlichen Strang der militärbezogenen sozialwissenschaftlichen Forschung. Es steht da vor allem die Frage der politischen, sprich der zivilen Kontrolle von Streitkräften im Vordergrund. Also wie sind Streitkräfte in ein politisches System eingebunden? Wie laufen da die Verantwortungsbereiche, aber auch die Machtkonstellationen hierzulande im europäischen, westlichen Kontext? Gilt natürlich das Primat der Politik. Wir können in andere Regionen der Welt schauen, wo man fragen kann oder wo man sieht, dass eben da nicht eine zivile Führung die Machthebel in der Hand hält, sondern dass das eher Militärangehörige sind. Also das sind so Fragen und aus einer speziell demokratischen Perspektive würde man immer dafür plädieren und optieren, dass, sagen die letzte Kontrolle bei der zivil gewählten Regierung liegen muss. Das wäre also sozusagen der eine Bereich. Und.
Frau Kraft: Wenn wir mehr in die nähere europäische Nachbarschaft gucken, dann können wir auch uns fragen, auch autoritäre Regime sind politisch und leicht eine Kontrolle über das Militär, aber nicht so unbedingt demokratisch legitimiert.
Frau Leonhard: Genau, genau. Also die Frage der politischen Kontrolle ist wirklich vollkommen richtig, ist sehr stark mit einer bestimmten Vorstellung auch verknüpft, normativen Vorstellungen, wie es idealerweise sein soll. Und dann kann man sich natürlich die Frage stellen, wie sieht es tatsächlich aus? Und natürlich aus einer wissenschaftlichen Perspektive dann verstärkt, was sind die Faktoren, die zu der ein oder anderen Konstellation führen, die die eine oder andere Konstellation bedingen? Also das wäre so der eine Bereich, Stichwort zivile Kontrolle des Militärs und ansonsten, das ist wäre ein bisschen die soziologische Diskussion auf so einer Makroperspektive. Es wäre die Frage, welche Auswirkungen sozialer Wandel auf Streitkräfte hat, wie sich da die Verbindungen zwischen Zivilgesellschaft und dem Militär verändern, näher zusammenrücken, weiter auseinanderdriften, das ist insbesondere eine Diskussion, die mitunter auch stark diagnostischen Charakter hat. Und interessant ist jetzt gerade aktuell durch die verstärkte Ausrichtung wieder auf Verteidigungsaufgaben ist die Frage, inwiefern sich die zivil-militärischen Bande, die gemäß weitgehender Übereinstimmung der Forscherinnen und Forscher sich in den letzten Jahren tatsächlich eher gelockert haben, hier in Deutschland durch die Aussetzung der Wehrpflicht, durch die Ausrichtung auf Auslandseinsätze, das heißt auf eine Funktion, in, wo Streitkräfte eingesetzt werden und etwas tun, was fernab der eigenen,
Frau Kraft: die weniger sichtbar sind.
Frau Leonhard: Genau, weniger sichtbar sind, fernab der eigenen Landesgrenzen stattfinden. Inwiefern kommt es jetzt wieder zu einer Annäherung? Das sind etwa so Fragen, die unter diesem Stichwort zivil-militärische Beziehungen und eben dann Makro-Perspektive diskutiert werden.
Frau Kraft: Achtung, Fangfrage. Kann die Militärsoziologie helfen, militärische Abläufe oder die Zusammenarbeit innerhalb des Militärs zu verbessern oder gar die Effizienz des Militärs zu steigern?
Frau Leonhard: Wahrscheinlich ein bisschen. Ich antworte deswegen drauf und ich gehe davon aus, dass der Disclaimer Fangfrage darauf abzielt, vielleicht noch ein bisschen zu erläutern, welchen Vorwurf man militärsoziologischer Forschung macht. Oder vielleicht ein bisschen neutraler formuliert, wo die militärsoziologische Forschung eigentlich herkommt. Moderne Ansätze der sozialwissenschaftlichen Analyse des Militärs stammen aus dem, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, wurden gewissermaßen in USAUnited States of America, na ja, nicht erfunden, aber doch das erste Mal im Rahmen des Zweiten Weltkriegs umfassend umgesetzt. Und das ist ein gewissermaßen ein Bias, der sich in der westlichen Militärsoziologie und insbesondere auch hier in Deutschland ja bis heute ein bisschen gehalten hat, nämlich dass die ersten, da muss ich dazu sagen, empirisch gestützten Forschungen zu den Streitkräften in der Tat weniger den Anspruch hatten, sozialwissenschaftliche Theorien zu entwickeln oder zu testen, sondern tatsächlich ganz konkrete praktische Motivation hatten, nämlich herauszufinden, wie funktionieren bestimmte Dinge in den Streitkräften und wie können sie verbessert werden? Natürlich sind generell, wenn man soziologische oder sozialwissenschaftliche Analysen anstellt, findet man, wenn es gut läuft, etwas über Zusammenhänge heraus, über Einflussfaktoren. Und daraus lassen sich natürlich auch Schlussfolgerungen daraus ziehen, wo bestimmte Problemlagen liegen, wo es vielleicht zu Konflikten kommt, wo bestimmte Defizite da sind. Gleichzeitig würde ich immer noch mal eine klare Unterscheidung machen zwischen einer sozialwissenschaftlichen Analyse, die, wie gesagt, eher auf die Identifikation von Problemen, von bestimmten, ja, Konstellationen hinweist und dann noch mal mit der Frage „Was macht man denn dann daraus?“. Also wie kann man die bestimmten Probleme vielleicht lösen oder wie kann man was verbessern? Eingedenk auch der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis, dass durch jede Intervention oder immer, wenn man auch jetzt von organisationaler, politischer Seite irgendeine Veränderung vornimmt, das hat dann auch Folgen, die, wenn es gut geht, durchaus intendiert sind. Aber es gibt immer auch Folgen, die nicht intendiert sind, das heißt, soziale Gebilde und dazu gehören natürlich insbesondere auch Streitkräfte als sehr hochkomplexe Organisationen mit hochkomplexen Abläufen. Wenn man an der einen Seite etwas ändert oder versucht, etwas zu implementieren, dann hat das vielleicht einen Effekt. Aber dann ändert man auch etwas, was man an einer anderen Stelle, die man vielleicht dann im Endeffekt nicht unbedingt, ja, so gewollt haben wird oder vielleicht auch nicht absehen kann, welche langfristigen Folgen das haben.
Frau Kraft: Es gibt noch eine zweite Kritik an der Militärsoziologie und zwar die, sie sei atheoretisch. Große Theoriedebatten, wie beispielsweise im Forschungsfeld der internationalen Beziehungen finden in der Militärsoziologie nicht statt. Ist der Vorwurf. Jetzt erst mal die Frage, stimmst du dieser Kritik zu?
Frau Leonhard: Ja, ich würde sagen, da ist schon einiges dran, dass es im Rahmen der militärsoziologischen Diskussion in diesem Forschungsfeld relativ überschaubare Anzahl von Hauptdebatten gibt. Das liegt zum einen daran, dass das ein Feld ist, das national und das gilt eben auch für Deutschland, aber auch für andere Länder ein Forschungsfeld ist, das relativ klein ist. Das heißt, es gibt eine relativ überschaubare Anzahl von Akteuren, die sich da tummeln. Und um lebhaftige, lebendige Diskussionen zu haben, braucht man natürlich auch eine gewisse Masse von Akteuren, die sich daran beteiligen. Und das ist eines der Probleme, oder sagen wir mal ein Merkmal des militärsoziologischen Feldes, das mit dazu beiträgt, dass es da nicht so viele Debatten gibt. Das ist das eine und das andere, wie du richtig gesagt hast, und auch das kommt aus dieser Tradition, sehr stark auf konkrete Probleme bezogenen Forschungsfeldes, das man, das ist ein Forschungsfeld, das eben sehr persönlich empirisch ausgerichtet ist, was bedeutet, dass man über das, was methodische Ansätze angeht, man da, gerade wenn man das auch noch mal historisch betrachtet, weil die Studien aus dem Zweiten Weltkrieg waren, bahnbrechend in vielerlei Hinsicht für bestimmte Forschungsmethoden, Befragungsinstrumentarien und so weiter, die dann auch in andere Felder ausgestrahlt haben. Durch diese starke empirische Ausrichtung, das hatte dazu geführt, dass man eben die Frage, wie lässt sich das Militär, militärisches Handeln, militärische Gewalt theoretisch noch mal einordnen und was sind da die zentralen Punkte, da einfach nicht lange Zeit nicht so eine große Rolle gespielt hat. Und das ist der andere Grund, warum es da nicht so wahnsinnig viele Debatten in theoretischer Hinsicht gibt. Das heißt, man greift, da kommen wir auf das zurück, was du am Anfang angesprochen hast, auf Ansätze in der Organisationssoziologie, in der Allgemeinen Soziologie zurück. Aber es gibt wenig Beispiele, wo tatsächlich auch theoretische Innovationen dann aus der Militärgenuin Militärsoziologie gekommen sind. Und das ist sicherlich, wenn man fragt, ja, in welche Richtung sollte man sich eigentlich da ein bisschen weiterentwickeln oder mal gucken, wo sind die Stärken und die Schwächen? Das ist sicherlich etwas, was für die Militärsoziologie da gilt.
Frau Kraft: Hat die Militärsoziologie Platz für kritische oder emanzipatorische Fragen?
Frau Leonhard: Ja, das würde ich schon sagen. Auch da, wenn man sich anguckt, was vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten, gerade auch international, sich da etabliert hat, ich sage speziell auch international, weil das Forschungsfeld, ich habe ja gerade ausgeführt, ist im nationalen Kontext relativ klein. Deswegen sind die Beziehungen zu Forscherinnen und Forschern aus anderen Ländern, jetzt hier aus einer deutschen Perspektive, aber das gilt, glaube ich, auch umgekehrt, da relativ wichtig. Es gibt also internationale Vereinigungen, wo sich Militärforscherinnen und -forscher regelmäßig treffen und da austauschen. Und in diesem Kontext beispielsweise ist, ich glaube, die ist jetzt zehn Jahre alt, gibt es auch eine, das ist eine Zeitschrift, entstanden aus dem britischen Kontext, die sich explizit „Critical Military Studies“ nennt und insofern den kritischen Ansatz, sich auf die Fahnen geschrieben hat. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass militärsoziologische Forschung in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern sehr stark an Einrichtungen stattfindet und durch Einrichtungen gefördert wird, die dem Militär oder dem Verteidigungsministerium nahestehen. Frau Kraft: Wie dem ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.
Frau Leonhard: Genau, wie dem ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Aufgrund ihrer eigenen Aufgabenbeschreibung natürlich Interesse an so einer Forschung haben, und das natürlich, wie das auch für andere Bereiche von Ressortforschung gilt, man da in einer speziellen Situation ist, als Forscherin, als Forscher, wenn man quasi zu einem Gegenstand arbeitet, der einen gewissermaßen selbst dazu beauftragt hat. Insofern ist da so eine Reflexion, würde ich sagen, unbedingt notwendig, findet aber auch nach meiner Bewertung, wie ich sagte es bereits, insgesamt tatsächlich verstärkt statt. Und da wird eben gerade auch versucht, die sich bestimmten Fragestellungen und vielleicht bestimmten Annahmen, die eben nicht hinterfragt werden und als taken for granted gelten, doch noch mal auf andere Art und Weise zu stellen. Das ist ebenso der eine Punkt. Und in Bezug auf kritische Ansätze würde ich da auch noch mal den ebenfalls angesprochenen methodischen Ansatz auch noch mal erwähnen. Nach meiner Bewertung handelt es sich bei der Militärsoziologie, die sehr stark empirisch ausgerichtet ist, tatsächlich um ein Feld, wo es auch eine sehr ausdifferenzierte, auch methodenkritische Diskussion gibt. Also inwiefern über Forschungsinstrumentarien und dann auch die Art und Weise der Reichweite von bestimmten Ergebnissen. Also da gibt es eine ganze Reihe von Diskussionen in bestimmten Themenbereichen, die da, ja, durchaus auch als kritisches oder sagen wir ein reflexives Potenzial haben.
Frau Kraft: Im Jahr 2021 gab es bundesweit 536 Professuren in der Fächergruppe Soziologie. Wie viele Lehrstühle für Militärsoziologie sind eigentlich darunter?
Frau Leonhard: Es gibt keinen Lehrstuhl für Militärsoziologie. Das heißt natürlich nicht, dass es an der einen oder anderen Universität Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich auch mit dem Militär beschäftigen aus einer organisationssoziologischen Perspektive. Das ist, würde ich sagen, vor allem im Bereich der Soziologie der naheliegendste Zugang, aber eben auch im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung. Da gibt es natürlich durchaus auch Leute, die sich mit dem Militär beschäftigen. Die Erklärung dafür liegt vermutlich daran, dass das ein Themenfeld ist, ich hatte ja gesagt, das ist ein relativ kleines Forschungsfeld oder es gibt wenige Leute, die sich damit beschäftigen. Und das hat schon etwas damit zu tun, was einem bekannten Buch von Hans Joas und Wolfgang Knöbl als der einer gewissen Kriegsvergessenheit zu tun haben. Der Sozialwissenschaften, ich würde sagen, speziell der Soziologie, in der Politikwissenschaft sieht das anders aus, dass man in der Analyse von Gesellschaft, sprich von modernen Gesellschaften, zu denen man auch eben die bundesdeutsche Gesellschaft oder westliche Gesellschaften zählt, dass man da sehr stark davon ausging, dass das Gesellschaften sind, die im Wesentlichen zivil funktionieren, wo Gewalt natürlich in der einen oder anderen Form dann mal auftritt, aber dann eher als Abweichung, als kriminelles, abweichendes Verhalten. Und dass das für die, für die inneren Beziehungen nicht so relevant ist und deswegen auch nicht in eigenständiger Art und Weise thematisiert wird.
Frau Kraft: Ist das in allen Ländern so oder gibt es, für Deutschland können wir das so feststellen, aber gibt es auch Länder in denen die Militärsoziologie stärker ist?
Frau Leonhard: Ja, also in dem angloamerikanischen Bereich hat die Forschung zum Militär einen ganz anderen Stellenwert. Natürlich allen voran die USAUnited States of America als das Land, die auch die weltweit stärksten Streitkräfte haben. Da ist das natürlich wenig erstaunlich. Genauso in Großbritannien, würde ich sagen, ist das auch. Da gibt es eine andere Tradition, die natürlich auch mit einer anderen, ja auch Praxis von Militäreinsätzen zu tun hat. Und ganz, ganz wichtig aus einer militärsoziologischen Perspektive, die sagen, ist auch Israel ebenfalls ein Land, wo, das sehe ich ja schon aufgrund der eigenen Situation, ja, mit Gewalt, staatlicher Gewalt, Streitkräften und so weiter, schon mal in einer ganz anderer Art und Weise auseinandersetzen müssen, als wie das in vielen Ländern in Europa ja der Fall ist. Dort gibt es breitere Diskussionen und auch eine deutlich breitere Beschäftigung mit diesen Fragen.
Frau Kraft: Kann uns die Militärsoziologie helfen, die Zeitenwende zu verstehen? Du hast es ja vorhin schon mal anklingen lassen. Wendung zur Landesverteidigung, wieder jetzt als spannendes Thema für die Militärsoziologie. Was kann sie noch beitragen? Was wären da so Themen?
Frau Leonhard: Wie interessant oder neu das eigentlich ist? Also natürlich ist der Angriff, Russlands Angriff auf die Ukraine, das ist natürlich etwas, ja, Neues oder Unerwartetes gewesen, was sehr viel geändert hat, jetzt insbesondere in der, in der Diskussion hierzulande, was auch by the way die Aufmerksamkeit für militärsoziologische Studien auch deutlich verändert hat. Also es gibt, haben wir festgestellt, ein, ein sehr viel größeres Interesse daran, etwas über Militär, die Bundeswehr und so weiter zu erfahren. Und natürlich hat das auch eine Auswirkung gehabt auf die öffentliche Wahrnehmung, soweit man sie anhand von Meinungsumfragen sozusagen erheben kann, was Sicherheitsbedrohungen und so weiter, was das angeht, gleichzeitig ist Tatsache oder die Beobachtung, dass sich Diskussionen und dann auch strukturelle Veränderungen bei Streitkräften, dass die abhängig von den allgemeinen sozialen und politischen Entwicklungen sind. Das ist jetzt keine neue Erkenntnis, das hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Und insofern ist das, was man jetzt sieht, diese Ausrichtung, politisch ausgerufene Ausrichtung auf Verteidigungs- und Bündnisaufträge, die, wenn man es genauer nimmt, ja nicht erst 2022 angefangen hat, sondern eigentlich schon mit der Annexion der Krim 2014, wo ja auch die, der Afghanistan Einsatz der Bundeswehr noch nicht komplett beendet wurde, aber eigentlich auch schon in eine neue Form….
Frau Kraft: In eine neue Form überführt wurde.
Frau Leonhard: In eine neue Form überführt wurde, genau. Da zeigt sich sozusagen der außen- und sicherheitspolitischer Wandel, der sich dann auch bei Streitkräften niederschlägt. Und insofern ist das unter militärsoziologischer Perspektive, es ist jetzt interessant zu sehen, was dann konkret passieren wird. Interessant auch noch mal zu sehen, wie schnell oder langsam das funktioniert, die Probleme die dabei auftreten. Aber dass es so einen Wandel gibt, dass sich auch gerade Wehrstrukturen, ich hatte vorhin schon angesprochen, die Aussetzung der Wehrpflicht, dass sich Wehrstrukturen ändern, je nachdem, zu welchem Zweck man die Streitkräfte gebraucht. Das ist, ja, gewissermaßen eine basale Erkenntnis, die man, ja, haben kann, die man auch bekommt, wenn man sich mit Streitkräften beschäftigt, insbesondere im zeitlichen Verlauf oder natürlich auch im nationalen Vergleich. Insofern ist die Zeitenwende unter dieser Perspektive, vielleicht gar nicht unter militärsoziologischen Kriterien, gar nicht so wahnsinnig interessant oder so neu, sagen wir es mal so.
Frau Kraft: Ich habe jetzt noch fünf Fragen vorbereitet, die du bitte nur schlagwortartig beantwortest: Deskriptiv oder analytisch oder kritisch?
Frau Leonhard: Analytisch und kritisch.
Frau Kraft: Kannst du trotzdem noch ganz kurz erklären, was diese Schlagworte oder diese Stichworte bedeuten und warum? Warum du kurz innehalten musstest, um die zu beantworten die Frage?
Frau Leonhard: Genau. Also, du spielst damit auf, ja auf unterschiedliche Forschungsansätze oder Forschungsperspektiven an, also das heißt, was macht man, wenn man sozialwissenschaftliche Forschung betreibt? Wenn man auch empirische Forschung betreibt? Geht es in erster Linie darum, zu beschreiben, was ist oder was nichts ist? Das wäre das Deskriptive. Geht es in erster Linie darum, herauszuarbeiten, wie bestimmte Bedingungsplattformen miteinander zusammenhängen, Einflussfaktoren, wie die aussehen?
Frau Kraft: Das Analytische.
Frau Leonhard: Das wäre das Analytische und dann das Kritische….
Frau Kraft: Die Königsdisziplin.
Frau Leonhard: Die Königsdisziplin, ja, die eher, also eine Perspektive, die vor allem noch mal darauf abhebt, nicht nur zu beschreiben und zu analysieren, was ist, sondern dabei auch aufzuzeigen, was, so würde ich es vielleicht formulieren, was dabei nicht beachtet wird oder was da eigentlich nicht zum Tragen kommt und man noch ein bisschen einen kleinen Schritt weitergeht, Vorschläge vielleicht für eine oder Perspektiven aufzuzeigen, wie es anders, vielleicht auch besser, sein könnte. Und ich glaube, das ist genau der Punkt, warum ich ein bisschen gezögert habe. Weil ich glaube, dass es in bestimmten Kontexten tatsächlich wichtig ist, kritisch zu hinterfragen. Gut, also unter dieser Perspektive ist, glaube ich, jede sozialwissenschaftliche Analyse in gewisser Hinsicht kritisch. Gleichzeitig ist der Punkt, inwiefern geht es darum, das zu, auch noch zu bewerten und einzuordnen. Und ich bin da immer ein bisschen vorsichtig, weil das kann man durchaus machen, aber dann muss man eigentlich erklären oder muss man auf jeden Fall bestimmen, was die Kriterien sind, wie man es einordnet. Und das ist in manchen Diskussionen, nicht zuletzt, wo es um das Militär geht und wo es um militärische Gewalt geht, ist man oft schnell mit normativen Postulaten, wo nicht unbedingt immer noch hergeleitet wird, was dann eigentlich die Bewertungskriterien dafür sind.
Frau Kraft: Welches militärsoziologische Buch oder welche Studie sollten Personen, die diesen Podcast hören, unbedingt lesen?
Frau Leonhard: Also, wenn man es richtig ernst meint mit der Soziologie, dann, ich habe das Buch erwähnt „Kriegsvergessenheit“ von Joas/Knöbl, ein sehr dickes, sehr gewichtiges Buch. Schwere Kost, schlecht, um es abends kurz vorm Einschlafen zu lesen. Aber das ist, was Sozialtheorie angeht und die Frage wie dort Krieg und Frieden und Gewalt thematisiert wird, wirklich etwas sehr, sehr wichtiges.
Frau Kraft: Frage Nummer drei. Welches Buch sollte unbedingt geschrieben werden oder welche Studie sollte unbedingt durchgeführt werden?
Frau Leonhard: Ich glaube, jetzt vor dem Hintergrund dessen, was wir in dem Bereich, wo ich auch arbeite, was wir da diskutieren, was da ganz gut wäre, vielleicht mal tatsächlich in einer umfassenden Art und Weise ein Buch zu schreiben über die, ja, die Deutschen und die Bundeswehr, die also praktisch die Beziehungen zwischen der bundesdeutschen Gesellschaft und den Streitkräften mal auf, ja, umfassendere Art und Weise beleuchtet, nicht nur in historischer Perspektive. Also Anfang, Wiederbewaffnung und so weiter, sondern aktuell mit oder Berücksichtigung aktueller empirischer Forschungsergebnisse.
Frau Kraft: Die soziologische Figur des Soldaten. Welche Rolle oder welche Rollen kannst du spontan dieser Figur zuordnen? Ich beginne mal mit Veteran, Diplomat. Vielleicht kannst du noch zwei, drei andere Rollen benennen, die der Soldat, die Soldatin hat.
Frau Leonhard: Oder haben kann. Reservist, Kämpfer, Peacekeeper, Krieger, Friedensstifter, Mörder, zumindest in bestimmten Debatten. Offizier und Gentleman.
Frau Kraft: Meine letzte Frage, was ist und wozu braucht es eine Militärsoziologie?
Frau Leonhard: Es braucht eine Militärsoziologie, weil das Militär eine zentrale Institution unserer Gesellschaft ist, und zwar des politischen Systems und ein genuiner Bestandteil von Politik ist. Es braucht eine Militärsoziologie, weil Streitkräfte ein ganz wichtiges politisches Instrument und Machtmittel sind und das zu wichtig ist, als dass man, also als dass man sich nicht damit beschäftigen kann und sich nicht dafür interessieren kann und sollte, was auch innerhalb dieser Streitkräfte passiert.
Frau Kraft: Was ist und wozu braucht es eine Militärsoziologie? Mit dieser Frage sind wir gestartet. Mit der Antwort darauf enden wir. Nina, ich bedanke mich bei dir für dieses Gespräch.
Frau Leonhard: Vielen Dank!
Frau Kraft: Bei Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit. Einige Informationen und Links zum Thema Militärsoziologie stellen wir Ihnen in den Shownotes zusammen und Sie finden diese auf der Webseite des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in der Rubrik Podcast.