Markus Pöhlmann: Geheimnis und Sicherheit-Transkript

Markus Pöhlmann: Geheimnis und Sicherheit-Transkript

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9 MIN

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Herzlich Willkommen zu „Angelesen“, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch von Markus Pöhlmann Geheimnis und Sicherheit. Der Aufstieg militärischer Nachrichtendienste in Deutschland, Frankreich und Großbritannien 1871-1914 vor. Es erschien 2024 im Verlag De Gruyter.
Staaten sind im Allgemeinen zurückhaltend, wenn es darum geht, Informationen, die ihre nationale Sicherheit betreffen, mit anderen Staaten zu teilen. Besonders groß ist dabei die Zurückhaltung gegenüber Staaten, zu denen angespannte Beziehungen bestehen. Will ein Staat unter diesen Voraussetzungen sensible Informationen über die nationale Sicherheit eines anderen Staates erlangen, kann ihm das nur durch Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel und Methoden gelingen.
Da liegt es nahe, in erster Linie an Dinge wie das Aushorchen von Funktionsträgern durch Spione oder das Abfangen und Mitlesen von Briefpost zu denken. Diese Wege zur Erlangung von Informationen wurden schon lange vor dem 19. Jahrhundert beschritten. Regelrecht institutionalisiert wurden nachrichtendienstliche Praktiken aber erst im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert.

Seit etwa 1870 „haben europäische Großmächte begonnen, diese Aufgabenbereiche innerhalb ihrer bestehenden militärischen Organisationen einzufügen“. Daher nimmt Markus Pöhlmann in der vorliegenden Arbeit die Zeit von 1870 bis 1914 in den Blick und betrachtet die Entwicklung nachrichtendienstlicher Strukturen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich. 
Dabei geht es um Organisations- und Zuständigkeitsfragen ebenso wie um die Mittel und Methoden, mit denen Erkenntnisse gewonnen wurden. Es ergibt sich aus der Natur der Sache, dass im Nachrichtenwesen größter Wert auf Geheimhaltung gelegt wird. Für den Historiker hat das die Folge, dass die Quellen zu diesem Themenfeld nicht so reichlich sprudeln, wie es wünschenswert wäre. Wörtlich spricht Pöhlmann von einer „Quellenmisere“. Andererseits ist die Quellenlage auch wieder nicht so trüb, dass sie gar keine belastbaren Aussagen erlauben würde. Pöhlmann fasst den Ausbau des Nachrichtenwesens im Untersuchungszeitraum ganz richtig als Ausdruck von Tendenzen auf, die das Zeitalter insgesamt bestimmten: Professionalisierung, Technisierung, Ausweitung von Staatstätigkeit; seine Arbeit ist insofern ein Beitrag zur Einbettung der Geschichte der Nachrichtendienste in die Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Zeit. In Frankreich und Deutschland waren die Nachrichtendienste jeweils dem Generalstab des Heeres zugeordnet. Die jeweiligen Seestreitkräfte betätigten sich ebenfalls nachrichtendienstlich. Allerdings prägte sich weder in Deutschland noch in Frankreich eine Kooperation der Teilstreitkräfte auf diesem Gebiet aus. Im französischen Generalstab bestand seit 1874 das Deuxième Bureau als fürs Nachrichtenwesen zuständige Abteilung. Für Deutschland ist eine wirkliche Institutionalisierung eines militärischen Nachrichtendienstes, der geheime Quellen nutzte, erst 1890 feststellbar. Bis dahin regierte Bismarck. Der „Eiserne Kanzler“ handhabte sensible Informationen aus dem Ausland lieber im informellen, persönlichen Kontakt mit bewährten Zuträgern. Nach seinem Abgang von der politischen Bühne wurde die Generalstabsabteilung IIIb geschaffen. In Frankreich war und blieb der Primat der Politik sehr viel stärker als im Deutschen Reich, d.h. die Einflussmöglichkeiten gewählter politischer Entscheidungsträger auf die Tätigkeit des Nachrichtendienstes waren erheblich größer. Das erscheint uns als aufrechten Demokraten aus heutiger Perspektive sympathisch. Seinerzeit musste es jedoch für die nachrichtendienstliche Arbeit nicht unbedingt von Vorteil sein. Die enge Bindung an den politischen Betrieb begünstigte die Verwicklung des Deuxième Bureau in die Dreyfuss-Affäre. Diese Affäre, die sich ab 1894 um den zu Unrecht wegen Spionage verurteilten französischen Hauptmann Alfred Dreyfuss entspann, wirkte höchst polarisierend und hielt Frankreich jahrelang in Atem. Für das Deuxième Bureau hatte sie Eingriffe der politischen Leitungsebene zur Folge, die die Arbeit des Dienstes auf Jahre hinaus empfindlich beeinträchtigten. Erst 1908 erreichten seine Wirkungsmöglichkeiten wieder das Niveau der Zeit vor der Affäre. Die französische Auslandsaufklärung war gegenüber der deutschen allerdings insofern im Vorteil, dass sie alle Ressourcen auf einen potentiellen Gegner, eben Deutschland, ausrichten konnte. Die deutsche musste hingegen als Folge der Annäherung, die sich seit den 1890er Jahren zwischen Frankreich und Russland vollzog, auch auf den russischen Nachbarn stets ein wachsames Auge haben. Ein bevorzugter Tummelplatz für das Deuxième Bureau war das 1871 als Kriegsbeute ans Reich gefallene Elsass-Lothringen. Hier konnte man wegen alter Anhänglichkeit, die nach 1871 fortbestand, mit einem nicht unerheblichen „Reservoir an potentiellen Zuträgern in der Bevölkerung“ rechnen. Mitunter erleichterte einem die Gegenseite auch ungewollt das Geschäft. So sind in Elsass-Lothringen für die Zeit von 1911 bis 1914 rund 80 Fälle von nach Frankreich übergelaufenen deutschen Soldaten dokumentiert. Die meisten von ihnen gaben „schlechte Behandlung oder Streit mit Vorgesetzten“ als Motiv ihrer Fahnenflucht an. Da zeigt sich der Zusammenhang zwischen äußerer Sicherheit und der – freilich beim preußischen Kommiss noch unbekannten – Inneren Führung. Zweifellos wären die meisten dieser Männer nie auf die Idee gekommen überzulaufen, wenn sie von ihren Vorgesetzten menschlich anständig behandelt worden wären. Großbritannien hatte vorrangig sein Empire im Blick. In dessen besonders profitablen Filetstücken wie Indien oder dem südlichen Afrika unterhielt man zur Gewährleistung der Stabilität nachrichtendienstliche Strukturen. Nicht so in Kontinentaleuropa, dem lange keine mit dem Empire vergleichbare Bedeutung beigemessen wurde. Das änderte sich um die Wende zum 20. Jahrhundert. Die immer weitere Annäherung Großbritanniens an Frankreich bewirkte größeres britisches Interesse an Europa. Zudem galt in London die maritime Aufrüstung Deutschlands als Bedrohung. Als man sich an der Themse zur nachrichtendienstlichen Aktivität auf dem europäischen Festland entschloss, war somit klar, dass diese sich in erster Linie gegen Deutschland richten würde. Anders als seine französischen und deutschen Pendants unterstand der britische Auslandsnachrichtendienst nicht dem Generalstab, sondern dem Kriegsministerium. Wegen der Dominanz der Marine gab es auf der Insel bis 1914 keinen Generalstab, der nach Umfang und Aufgabenzuschnitt auch nur annähernd dem deutschen oder französischen entsprochen hätte. Viele Informationen ließen sich offen beschaffen, sei es durch Zeitungs- und Fachzeitschriftenauswertung, sei es durch Beobachtung der in allen hier untersuchten Staaten in der Regel jährlich stattfindenden großen Manöver. Dafür waren die an den Botschaften stationierten Militärattachés zuständig. Sie wurden in allen Staaten üblicherweise als Manöverbeobachter eingeladen und berichteten anschließend ihrem jeweiligen Geheimdienst. Der offenen Informationsbeschaffung kam ein ebenso hoher Stellenwert zu wie der geheimen. Bei der geheimen entsprach es der Praxis aller Dienste, eher Zuträger im Zielgebiet anzuwerben als eigenes Personal zur dauerhaften Verwendung einzuschleusen. Arbeitete man im aufzuklärenden Gebiet mit eigenem Personal statt mit angeworbenen einheimischen Zuträgern, konnte dies das Risiko der Enttarnung erhöhen. Dabei konnten die politischen Folgen, die sich in solchen Fällen ergaben, höchst unterschiedlich ausfallen. Als 1887 an der deutsch-französischen Grenze der französische Spion Guillaume Schnaebelé verhaftet wurde, erhob sich wütender Protest in Frankreich. Kriegsminister Boulanger forderte Krieg gegen Deutschland, falls Schnaebelé nicht unverzüglich auf freien Fuß gesetzt werde. Bismarck war an einer Eskalation nicht interessiert und verfügte Schnaebelés Freilassung. Viel weniger dramatisch war die Lage 23 Jahre später, als 1910 in Norddeutschland zwei britische Spione verhaftet wurden, die mit der Auskundschaftung deutscher Küstenbefestigungen beauftragt waren. Es gab keinen Aufschrei in der deutschen Presse. Vielmehr verwiesen die Zeitungen darauf, dass Spionage in der Staatenwelt eben gängige Praxis sei. Die beiden Offiziere wurden zu vier Jahren Festungshaft verurteilt und Anfang 1913 vorzeitig entlassen. Pöhlmann erkennt in diesem Fall einen Einstellungswandel im öffentlichen Umgang mit Spionage: „Während noch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Spionage für einen aktiven Offizier als moralisch problematisch angesehen wurde, erschien sie jetzt fast schon als eine ganz normale soldatische Dienstpflicht“. Überhaupt gehört es zu den Vorzügen der vorliegenden Arbeit, neben den Diensten und ihrer Betätigung auch der Frage nachzugehen, wie das Phänomen Spionage – oder die Vorstellungen, die Außenstehende über die Branche verbreiteten – in den untersuchten Ländern in der Öffentlichkeit wirkte. Interessant ist in dem Zusammenhang das Beispiel Wilhelm Stieber. Geheimrat Dr. iur. Stieber leitete in den 1860er Jahren die Berliner Kriminalpolizei. 1870 wurde er für die Dauer des deutsch-französischen Kriegs zum Feldpolizeidirektor ernannt. In dieser Funktion war er unter anderem für Personenschutz im deutschen Hauptquartier, jedoch nicht fürs militärische Nachrichtenwesen zuständig. In den folgenden Jahrzehnten entstand in Frankreich die Legende, Stieber habe dort bis 1870 ein Netzwerk von mehr als 30 000 Agenten aufgebaut. Diese Spione hätten durch entsprechende Informationen den deutschen Truppen erst den Sieg ermöglicht. Viele waren bereit, lieber solchen hanebüchenen Behauptungen Glauben zu schenken als sich mit der Tatsache abzufinden, dass die französische Niederlage auf das Versagen der politischen und militärischen Führung zurückging. Um die Wende zum 20. Jahrhundert fand diese Legende auch ihren Weg nach Großbritannien, wo die von der Boulevard-Presse befeuerte Angst vor deutschen Spionen weit verbreitet war und zeitweilig Züge von Hysterie annahm. Diese abwegige Erzählung erwies sich allerdings als erstaunlich beständig. So geistert der brave Geheimrat Stieber bis heute immer wieder als genialer Organisator eines riesigen Spionagenetzwerks durch die angelsächsische Literatur. Die moderate Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf die 1910 verhafteten britischen Spione offenbart einen markanten Mentalitätsunterschied zur ausgeprägten Spionageangst in der britischen Öffentlichkeit. Im Vergleich attestiert Pöhlmann daher der politischen Kultur des deutschen Kaiserreichs in Sicherheitsfragen eine „Nachtwächtermentalität“. Vielleicht ist der Gedanke nicht abwegig, dass diese Mentalität bis heute nicht völlig verschwunden ist. Nach allem, was öffentlich bekannt wird, scheinen jedenfalls Budget und Befugnisse bundesdeutscher Nachrichtendienste im Vergleich zu den Diensten der angelsächsischen Welt überschaubar. Bliebe schließlich die Frage nach dem Nutzen der Auslandsaufklärung. Welchen militärischen Wert hatten ihre Ergebnisse bei Kriegsausbruch, als es darauf ankam? Pöhlmann zeigt auf, dass die Informationen, die die Dienste sich verschafften, immer den Charakter des Fragmentarischen hatten. Setzten die Auswerter die Puzzleteile zusammen, konnten sich durchaus aufschlussreiche Lagebilder in der technischen und taktischen Dimension ergeben. Umfassende Erkenntnisse über die operativen Absichten des potentiellen Gegners erlangte bis 1914 aber keine der am Spiel beteiligten Mächte. 
Das zeigt sich exemplarisch anhand der Eisenbahnaufklärung. Da ihm logistisch die entscheidende Rolle beim Aufmarsch zukam, wurde die Aufklärung des deutschen Schienennetzes für das Deuxième Bureau zu einer Frage hoher Priorität. Tatsächlich gelang es den Franzosen, sich diesbezüglich einen guten Überblick zu verschaffen. Am Vorabend des Weltkriegs war man imstande, exakt zu berechnen, wie viele Truppen das deutsche Heer im Kriegsfall in welchen Zeiträumen über welche Bahnlinien wohin verschieben konnte. Man wusste in Paris, dass der Gegner die Entscheidung im Westen suchen würde und kannte alle Aufmarschoptionen, die Berlin hatte. Diese Optionen waren jedoch zahlreich, und keine schien viel wahrscheinlicher als alle anderen. Man rechnete mit einem verstärkten deutschen Angriffsflügel. „Wie weit dieser starke deutsche Schwenkungsflügel ausholen würde, blieb [aber] für den französischen Generalstab immer ein Rätsel; das Ausgreifen über die Maas hinaus haben die Experten nicht erkannt“. Mit anderen Worten: Im August und September 1914 waren die mit großem Aufwand zusammengetragenen Aufklärungsergebnisse der Vorkriegszeit Frankreich keine große Hilfe. Die spannende Frage, ob dies in etwaigen künftigen Konflikten so ähnlich auch für die Aufklärungsergebnisse gelten könnte, die der NATO über potentielle Aggressoren zur Verfügung stehen, wird nur die Zeit beantworten können. Oder auch nicht, wenn, was zu hoffen ist, größere Konflikte dauerhaft vermieden werden können. Das war „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch von Markus Pöhlmann: „Geheimnis und Sicherheit. Der Aufstieg militärischer Nachrichtendienste in Deutschland, Frankreich und Großbritannien 1871-1914.„

von Christoph Kuhl

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