Johannes Steinhoff-Transkript

Johannes Steinhoff-Transkript

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Herzlich willkommen zu „Angelesen“ dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch von Johannes Steinhoff: „Wohin treibt die NATO? Probleme der Verteidigung Westeuropas“ vor. Es erschien 1976 im Verlag Hoffmann und Campe in Hamburg sowie 1978 im Deutschen Taschenbuch Verlag. 2019 bescheinigte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron der NATO den Hirntod. Das war nicht das erste Mal, das man am Zweck der Allianz zweifeln konnte. Zu sehr schien sie sich in der Vergangenheit immer wieder in Kleinigkeiten zu ergehen. Die Beispiele für absurde Streitigkeiten in der Allianz sind Legende. Beispiele gefällig: Griechenland blockierte zeitweilig den Beitritt von Nord Mazedonien, weil sich in dessen Staatsnamen der Name der griechischen Provinz Makedonien widerspiegelt. Die autokratisch regierte Türkei tat gleiches mit Schweden, weil das nordeuropäische Land angeblich kurdischen Terroristen Asyl bietet. Der rechtspopulistische Ministerpräsident Ungarns scheint jüngst gar von Russland an Ungarn übergebene ukrainische Kriegsgefangene zurückzuhalten, wohl um Russland zu gefallen. Und als Musterbeispiel dient immer noch der Austritt Frankreichs aus der militärischen Integration der NATO im Jahr 1966/67, weil sich dessen Staatspräsident Charles de Gaulle nicht damit abfinden konnte, dass nicht die Grande Nation, sondern die wirklich militärisch potenten USAUnited States of America im Bündnis die einzig wirkliche Weltmacht war. Wohin treibt also die NATO, die Wertegemeinschaft, wie sie sich selbst lange Zeit bezeichnet hat? Diese Frage stellte bereits 1976 Johannes Steinhoff, der wenige Jahre zuvor als Vorsitzender des Militärausschusses der NATO an der militärischen Spitze des Bündnisses gestanden hatte. Und diese Frage hat – immer wieder einmal, oder geradezu permanent – selten etwas von ihrer Aktualität verloren.

Der Autor
Der 1913 geborene Johannes Steinhoff war ein im Zweiten Weltkrieg erfolgreicher Jagdflieger und Geschwaderkommodore. Nach einer schweren Verwundung gegen Kriegsende und mehrjährigem Lazarettaufenthalt folgte eine Tätigkeit in einer Keramikfirma und anschließend als Referent im Amt Blank, dem „Beauftragten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“. Ab 1955/56 war er bis 1974 Offizier der Luftwaffe der Bundeswehr. Bereits früh gewann er durch Verwendungen im Militärausschuss der NATO (1960-1963) oder als Chief of Staff Allied Air Forces Central Europa (1965/66) tiefe Einblicke in das Funktionieren der Allianz. 1971 bis 1974 stand er als Chairman des NATO Military Committee (allein militärisch betrachtet) an der Spitze des Bündnisses. – Dabei ist bemerkenswert, dass er dem Militärausschuss zuvor eben nicht als Generalstabschef bzw. Generalinspekteur der Bundeswehr bereits angehört hatte. Vielmehr war er als Vorsitzender des Militärausschusses der NATO der bisher einzige „Seiteneinsteiger“. In den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg hatte er alle großen Nachkriegskrisen miterlebt: die Berlinblockade 1948/49, den Aufstand in der DDRDeutsche Demokratische Republik im Juni 1953, Ungarn und die Suezkrise 1956 wie auch die Berlin-Krise 1958 bereits im Amt Blank bzw. dem Verteidigungsministerium. Den Mauer-Bau in Berlin 1961 und die Kuba-Krise 1962 erlebte er als Deutscher Vertreter im Militärausschuss der NATO in Washington und den „Prager Frühling“ 1968 als Inspekteur der Luftwaffe. In allen Krisen konnte er das Handeln und Reagieren der Allianz und ihrer Mitgliedsstaaten aus teilweise exponierten Positionen beobachten – und so tiefgreifende Einblicke in das Funktionieren, das Agieren und die Handlungsmöglichkeiten der Allianz gewinnen. Ihm war dabei zwangsläufig aufgefallen, dass das Bestreben der NATO, Entscheidungen im Konsens, also einstimmig zu fällen, vielfach einem politisch entschlossenen Agieren im Wege stand. Und noch mehr konnte er beobachten, dass die NATO-Partner durchaus unterschiedlich interpretierten, was sie als Staaten zur Verteidigungsfähigkeit der Allianz in Europa beschlossen hatten.

Das Buch
Es verwunderte nicht, dass Steinhoff als im In- und Ausland gleichermaßen anerkannter, aber auch für sein scharfes, manchmal gar ätzendes Urteil berüchtigter General sich der Zukunft der NATO zuwandte. Dies tat er in seinem Buch in übersichtlichen Kapiteln mit klarer Sprache und unübersehbarer Diktion: es ging ihm offenkundig um eine Analyse, was die Schwächen des Bündnisses waren und wozu aber die NATO fähig sein müsste. Steinhoff legte sein Buch als chronologisch-sachliche Analyse vor. Er widmet sich den damals einschlägigen Themen der militärisch abgestützten Sicherheitspolitik.

NATO in der Krise 
Einleitend beschreibt Steinhoff die militärpolitische Gemengelage, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Zahlen zu Rüstungsbudgets der Staaten – im Westen rückläufig; das ist heute auch nicht neu! – und Waffenarsenalen sowie Erläuterungen zur Rohstoffabhängigkeit der westlichen Welt dienen ihm als Vorlage, mehr Engagement gerade von den europäischen NATO-Staaten zu fordern. Tatsächlich setzte Anfang der 1970er Jahre eine gewisse Nachlässigkeit ein: zahlreiche Staaten reduzierten ihr Verteidigungsbudget und teilweise auch ihren Streitkräfteumfang. Ein innerer Widerspruch zur damals einsetzenden Entspannungspolitik der Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt ist nicht zu erkennen. Vielmehr sorgten die zunehmende Inflation und wirtschaftliche Rezession dazu, dass die Einzelstaaten ihr Geld woanders einsetzen wollten. Gegenüber Diktaturen, und letztlich war die kommunistische Welt nichts anderes, sind Demokratien dabei stets im Nachteil: In ihnen sind Haushaltsentscheidungen immer ein Aushandlungskompromiss, der andere Bedürfnisse berücksichtigen muss und auch durch parteipolitische Konstellationen in den Regierungen geprägt ist. Noch mehr aber hatte sich Anfang der 1970er Jahre gezeigt, dass beispielsweise die arabischen Staaten infolge ihrer machtvollen Position als erdölexportierende Staaten eine neue Rolle im Konzert der Mächte gewannen – nicht ohne Einflüsse auf die Militärpolitik der beiden Supermächte USAUnited States of America und Sowjetunion.

Hauptkapitel: Grundsätze für die Erhaltung der Sicherheit
Wie selbstbewusst muss ein General sein, wenn er in einem Buch einen vierseitigen Mängelkatalog präsentiert, was die NATO alles anders, und vor allem besser machen müsste! Als Stichworte sind an dieser Stelle zu nennen:

  • Die mangelhafte Solidarität der Allianzmitglieder, die nicht ausreichenden konventionellen Streitkräfte in Europa – was den Nuklearwaffen eine viel zu hohe Bedeutung zumaß –,
  • die Vergeudung immenser Summen infolge fehlender Standardisierung bei Waffensystemen und u.a.
  • das Fehlen gemeinsamer taktischer Doktrinen.

Kurzum: Steinhoff hielt eine „Reform der NATO an Haupt und Gliedern“ für unumgänglich.
In der Folge widmet sich Steinhoff der damaligen militärischen Bedrohung der NATO und der strategischen Doktrin der Allianz. Ausgehend von einer knappen Analyse ihres Ist-Zustandes und vor dem Hintergrund der zuvor angesprochenen Probleme beschreibt Steinhoff mögliche militärische Szenarien, die eines gemeinsam haben: den Überfall des Warschauer Paktes auf die NATO und wie man ihm dann begegnen könnte. Im Großen und Ganzen war aber folgendes zu bedenken: „Die Strategie der Allianz ist immer von der Überzeugung ausgegangen, dass die Sowjetunion militärische Auseinandersetzungen meiden wird, die ihre eigene Existenz gefährden könnten. Hingegen wurde die größte Gefahr ‚am unteren Ende des Spektrums‘, nämlich der begrenzten Aggression gesehen.“ Deswegen hatten sich die Streitkräfte der NATO auch aus Kostengründen dem „Mobilisierungs-Gedanken„ verschrieben und eine ganze Reihe von Reserve-Verbänden geschaffen. Diese aber hätten bei einer plötzlichen Aggression eben nicht zeitgerecht zur Verfügung gestanden. 

Wohin treibt die NATO?
Im gleichnamigen Kapitel kreist Steinhoff, für damalige Zeiten nicht unüblich, bei den Problemen der NATO um die Sonderrolle Frankreichs. Es war aus der militärischen Integration ausgeschieden, aber in den politischen Gremien noch präsent. Ihre nationalen Eigenheiten standen für ein überholtes Großmachtauftreten und wären zu vernachlässigen, wenn es eben nur um Frankreich gegangen wäre. Aber andere NATO-Staaten begannen in der Folge eben auch, aus unterschiedlichen Gründen hier und da eigene Wege zu gehen und nicht im Sinne der Allianz zu handeln. – Auch so etwas können wir heute beobachten.

Taktische Nuklearwaffen
Ein wichtiges Kapitel widmet Steinhoff den taktischen Nuklearwaffen. Von ihnen gab es in den 1970er/80er Jahren mehrere Tausend, seien es Artilleriegranaten, Kurzstreckenraketen oder Abwurfmunition für Kampfflugzeuge. Insbesondere seit dem Ende des amerikanischen Atomwaffenmonopols stieg ihre Anzahl in Europa merklich. Dieses Kapitel ist im Übrigen sehr stark biographisch gefärbt, weil Steinhoff den Strategiewechsel der USAUnited States of America 1961/62 miterlebte, während er dort deutscher Vertreter im Militärausschuss war. Der Schwenk der USAUnited States of America zur Flexible Response, die dann 1967/68 offizielle NATO-Strategie wurde, war geprägt von der Erkenntnis, dass nicht jeder Krieg automatisch auf der nuklearen Ebene stattfinden würde und das demzufolge die Nuklearwaffen mehr noch als vorher ein politisches Instrument wurden. Wenn aber Nuklearwaffen politische Instrumente und weniger Kriegsführungsmittel oder „Battlefield Artillery“ sind, dann sind auch taktische Nuklearwaffen schon strategische Mittel. Die Definition taktischer Nuklearwaffen ist dann, wie Steinhoff beschreibt, weitgehend akademisch – und von den damaligen Wirklichkeiten entrückt. Frühere Übungen der NATO, bei denen der Nuklearwaffeneinsatz dann in Hunderten virtuell gespielt wurde, erscheinen damit in (Zitat) „makabrem Licht“. Weil die europäischen Staaten und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland keine eigenen Nuklearwaffen besitzt, zählen diese zu den (Zitat) „Habenichtsen“. Diese Herabstufung bedeutete aber niemals, dass solche Staaten in der NATO weniger Bedeutung oder Gewicht besaßen wie die USAUnited States of America und Großbritannien als Nuklearmächte. Im Gegenteil waren die USAUnited States of America seit ca. 1966 bemüht – und durchaus erfolgreich – , den Einsatz von Nuklearwaffen auf dem europäischen Kriegsschauplatz einem Konsultationsverfahren zu unterwerfen, der jedem betroffenen Staat wenigstens formal eine Mitsprache zusicherte. – Hinweis des Verfassers: Da es bislang nie zu einem Nuklearkrieg in Europa kam und die Konsultationsrichtlinien bislang nirgendwo veröffentlicht wurden, ist jede Aussage zu ihnen höchst spekulativ. Wir können also nicht sagen, wie es im Falle eines Falles abgelaufen wäre. – Die Lektüre insbesondere dieses Kapitels lohnt sich also vor allem für alle diejenigen, die einen Eindruck von der Komplexität des Nuklearwaffeneinsatzes, seiner politischen Kautelen und seinem fragwürdigen militärischen Nutzen gewinnen wollen. 

Reform der NATO
Im letzten Kapitel widmet sich Steinhoff möglichen Ansätzen einer Reform der NATO. Der Verzicht auf einen Artikel in der Kapitelüberschrift mag als semantische Nachlässigkeit verstanden werden. Geht es um „eine“ oder gar „die“ Reform der NATO, mag sich der Leser fragen. Tatsächlich zeichnet der Autor hier einen durchaus scharfen Kontrast zwischen den heute noch mehr überragenden USAUnited States of America, und ihren militärischen Mitteln und Möglichkeiten, und den übrigen NATO-Mitgliedstaaten. Steinhoffs Resümee fällt denkbar knapp und auf den ersten Blick einleuchtend aus: Wenn die NATO aus dem Blickwinkel von 1974 ihre politische und militärische Bedeutung erhalten will, muss sie geschlossener auftreten und agieren. Dazu zählten damals wie heute ein höheres Maß an Standardisierung von Waffen, Gerät und Verfahren. – Anmerkung: Dass in den 1960er Jahren nicht weniger als sechs NATO-Staaten den Lockheed F-104G Starfighter nutzten und später zahlreiche Staaten die Fahrzeuge der deutschen Leopard-1-Familie – waren erste gute Versuche. – Eine europäische Rüstungswirtschaft wäre aus Sicht Steinhoffs zu gründen. – Hierzu kann man nur flapsig feststellen: Das ging meistenteils daneben. Erfolgreiche europäische Rüstungsprojekte gibt es fraglos. Dass sie allerdings wirtschaftlich erfolgreich gewesen wären (Stichwort Stückzahlen!), kann man nicht behaupten. Und dass jede Nation ihre eigenen Vorstellungen von Nachschub hat, stört heute noch mehr als damals, als die NATO noch territorial überschaubar war. 

Ein Fazit
Man kann Johannes Steinhoffs Buch tatsächlich als eine Reformidee verstehen, die von ihrer Aktualität rein gar nichts verloren hat. Teilweise hören sich die nationalen Wünsche, Forderungen und Ansprüche in der Allianz (heute noch mehr als zu Steinhoffs Zeiten) an wie eine Kakophonie der Zwerge, wenn die mittlerweile 31 NATO-Staaten sich unfähig zum sinnvollen, einstimmigen Kompromiss zeigen, weil ein oder zwei ihre Extrawurst haben wollen. Wenn die NATO ihre unübersehbare Bedeutung für die Sicherheit Europas behalten soll, muss der Konsens im Bündnis neu belebt werden. Aber den Konsens hat auch Johannes Steinhoff nur schwer gefunden. Dennoch: Alles, was er beschreibt, lässt sich fast nahtlos in die Jetztzeit übertragen. 1996/97 benannte Bundesverteidigungsminister Volker Rühe die Kaserne der 3. Luftwaffendivision und der früheren Wehrmacht-Luftkriegsschule 2 in Berlin Gatow sowie das Jagdgeschwader 73 in Laage bei Rostock nach Johannes Steinhoff. Er begründete diese Benennungen mit der Hohen Anerkennung, die sich Steinhoff als Offizier der Bundeswehr in der NATO erworben habe. Fragt man sich, ob der frühere Wehrmacht-Oberst und spätere Bundeswehr-General Johannes Steinhoff auch heute noch traditionswürdig ist, kann man diese Frage rundheraus bejahen. Kaum ein Offizier hatte in seiner Teilstreitkraft und für die Bundeswehr zu seiner Zeit solch ein Ansehen und solch eine Wertschätzung erworben – auch und obwohl er vielfach Widerstände bei seinen Reformprojekten durch geschicktes Agieren auch mithilfe der Presse überwand. Seine  hartnäckigkeit und Durchsetzungsfähigkeit soll Bundeskanzler Helmut Schmidt wie folgt kommentiert haben: „Der steckt 10 Staatssekretäre in den Sack!“ Und schließlich ist es doch noch bemerkenswerter, dass er seine Reformvorstellungen zur NATO als Buch veröffentlichte. Klarer Widerspruch oder deutliche Kritik zum Buch waren damals kaum zu vernehmen. Seine Zeit in der Wehrmacht verblasst davor. Zwar war er zuletzt Oberst und träger hoher Tapferkeitsauszeichnungen, aber er betonte das nicht. Dennoch waren es gerade diese Details, die die Neugier der neuen Alliierten weckten. Dioch schnell erkannten sie, dass er eben nicht nur ein beliebiger Ritterkreuzträger war und zudem eine klare, das NSNationalsozialismus-System ablehnende Haltung zeigte. Das war „Angelesen„! Das Buchjournal des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch von Johannes Steinhoff: “Wohin treibt die NATO?„

von Heiner Möllers