Handbuch Innere Führung

Handbuch Innere Führung

Datum:
Lesedauer:
15 MIN

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Herzlich willkommen zu „Angelesen“, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr“. Heute stellen wir Ihnen das 1957 vom BMVgBundesministerium der Verteidigung herausgegebene „Handbuch Innere Führung“ vor. Es trägt den Untertitel „Hilfen zur Klärung der Begriffe“. 15 Jahre später erschien die 5., unveränderte Auflage. Das Handbuch Innere Führung ist in die Jahre gekommen. Mit etwas Glück findet man es in Antiquariaten. Auch wenn die Bibliotheken der Bundeswehr noch einige Exemplare haben dürften - zu Recht fragt sich an dieser Stelle der Hörer, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich mit einem Handbuch aus der Aufbauphase der Bundeswehr zu beschäftigen. Aus unserer Sicht gibt es mehrere gute Gründe, dieses Buch in die Hand zu nehmen und aufmerksam zu lesen. Dafür spricht zunächst die Veröffentlichung des neuen Handbuchs Innere Führung am 12. November 2023. Ein Blick in das alte Handbuch gibt einen Vorgeschmack auf die Inhalte, mit denen sich die Innere Führung damals wie heute beschäftigt. Reizvoll wäre sicherlich, Sprache und Inhalte der beiden Handbücher zu vergleichen und Unterschiede zu erklären. Denn in den letzten 66 Jahren hat sich nicht nur die Bundeswehr stark verändert. Ein weiterer Grund ist die sprachliche Qualität des alten Handbuchs. Selbst jüngere Soldatinnen und Soldaten sind davon beeindruckt. Bei der Festigung ihres soldatischen Selbstverständnisses scheint ihnen das alte Handbuch mehr zu helfen als die gültige Regelung zur Inneren Führung. Diese wurde erstmalig 2008 herausgegeben und beschränkt sich, wie bei deutschen Vorschriften üblich, auf Grundsätze. Für ausführliche Erläuterungen ist darin kein Platz. Hier liegt der qualitative Vorteil des Handbuchs: Es erklärt, folgert und empfiehlt, stellt dabei Bezüge zu Gegenwart und Zukunft her und gewährt Freiräume für das eigene Nach- und Weiterdenken. Wie inspirierend das alte Handbuch Innere Führung für uns heute sein kann, belegen drei neuere Veröffentlichungen. Der Oberstleutnant im Generalstabsdienst Nicolas Holz schrieb ein Buch mit dem Titel „Zurück in die Zukunft“, in dessen Mittelpunkt er Kernaussagen des alten Handbuchs stellte. Dem Fallschirmjäger, der als Kompaniechef während seines Einsatzes in Afghanistan einen Beinschuss erhielt, ist die Innere Führung nicht zuletzt wegen der Sprache und der Inhalte des alten Handbuchs eine Herzensangelegenheit geworden. Das Cover des Handbuchs brachte es auch auf den Buchdeckel des Jahrbuchs Innere Führung 2020. Dessen Herausgeber wollten damit auf die Relevanz des alten Handbuchs für die konzeptionelle Weiterentwicklung der Inneren Führung hinweisen. Und schließlich empfahl der Historiker Klaus Naumann, langjähriges Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung, in der „IF. Zeitschrift für Innere Führung“ dessen „Re-Lektüre“. Zum Schluss schrieb er der Bundeswehr ins Lastenheft: „Eine Innere Führung für heute braucht einen neuen Geist, der sich am Elan der Gründungs- und Aufbauzeit ein Beispiel nehmen sollte.“ Was ist nun das Besondere an diesem Handbuch? Was zieht die Leser geradezu magisch an? An erster Stelle ist, wie bereits angemerkt, dessen Sprache zu nennen. Sie ist elegant, ohne gekünstelt oder intellektuell abgehoben zu wirken. Sie verwendet Begriffe, die wir heute durch Wörter ersetzt haben, die unserem Zeitgeist entsprechen, aber das Wesen des Militärischen nicht deutlich genug zum Ausdruck bringen. So spricht das alte Handbuch von der „Schlagkraft“ der Bundeswehr. Heute nutzen wir dafür den Begriff der Einsatzbereitschaft – ein Begriff, der ohne Schwierigkeiten auch auf eine Fußballmannschaft oder die Feuerwehr übertragbar ist. Wenn es auf einer der ersten Seiten des Handbuchs heißt: „In unserer Situation des Neuaufbaues von Streitkräften lautet die einzig legitime Frage: Wie kann die deutsche Bundeswehr in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Instrument von höchster Schlagkraft gestaltet werden?“, dann ruft das Soldatenherz: Ja, genau darum geht es doch im Wesentlichen. Und nicht um Neuausrichtung, Prozessorientierung oder Veränderungsmanagement. Ein weiterer, damals geprägter Begriff ist der des „permanenten Bürgerkrieges“. Er bezeichnet die Situation einer allgemeinen Friedlosigkeit. Darunter konnte sich jeder, der noch die 1920er Jahre in Erinnerung hatte, etwas vorstellen. In den 1950er Jahren umfasste dieser Begriff die Teilung Deutschlands sowie den globalen Kalten Krieg, weshalb die Autoren des Handbuchs auch von einem „permanenten Weltbürgerkrieg“ sprechen. Heute nutzen wir dafür Begriffe wie „hybride Bedrohungen“ oder „Systemkonkurrenz“. Diese Begriffe entstammen der politikwissenschaftlichen Fachsprache und sind nicht aus sich heraus verständlich. Den Autoren des alten Handbuches war noch klar, dass sie für jedermann nachvollziehbar beschreiben mussten, was Zweck und Aufgaben der neuen deutschen Streitkräfte in einer veränderten Welt sind. Dies ist ihnen bestens gelungen. Bei der Klärung von Begriffen räumen die Autoren des Handbuchs dem Begriffspaar „Freiheit und Verantwortung“ einen besonders breiten Raum ein. Darin sehen sie den Kern des Selbstverständnisses einer Armee in der Demokratie. Hören wir nun, wie diese Begriffe das neue Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ beschreiben und dabei Bezug nehmen zum „permanenten Bürgerkrieg“: „Der Soldat in der Demokratie kann zum Dienen nur geführt werden, wenn ihm Freiheit und Mitverantwortung gegeben werden. Es gibt hier keine Kompromisse: entweder geben wir Freiheit konsequent, oder wir entscheiden uns mit allen Konsequenzen für das Totalitäre. Jede halbe Sache, jede Mischung wäre der Dynamik des Totalitären von vornherein unterlegen. Mit jeder Inkonsequenz aber hätten wir auch schon die Schlagkraft der demokratischen Armee verspielt und, vor allem, das Recht verloren, Streitkräfte zum Schutze der Freiheit aufzustellen.“ Die Innere Führung trägt also dazu bei, dass die Bundeswehr verlässlich auf der Seite der Demokratie steht; und dass ihre Soldaten sich nicht von totalitären Ideologien verführen lassen oder indifferent beiseite stehen, wenn die Demokratie in Gefahr ist. Die neuen deutschen Streitkräfte dienen ausschließlich dem Schutz von Recht und Freiheit. Sie verschaffen sich so Legitimität und Vertrauen in Politik und Gesellschaft. Im Mittelpunkt des Handbuchs Innere Führung steht das Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“. Es beschreibt das Ideal eines Soldaten, der den militärischen Dienst als Teil seiner politischen Verantwortung versteht. Im Frieden sieht er das oberste Ziel von Strategie. Und wegen dieser Verantwortung will und kann er auch im militärischen Dienst Mitverantwortung für die Bundeswehr und ihre Schlagkraft übernehmen. Daraus resultieren sein Gehorsam aus Einsicht, sein Engagement in der Auftragstaktik und auch seine Bereitschaft, sich innerlich selbst für seinen Dienst fit zu machen. In diesem Zusammenhang spricht das Handbuch Innere Führung von „geistiger Rüstung“. Erneut ein Begriff, der sich wohltuend von modernen Begriffen wie „Mindset“ oder „Resilienz“ abhebt und aus sich heraus verständlich ist. Die Väter der Inneren Führung unterstreichen damit, dass es nicht ausreicht, gut an Waffen ausgebildet zu sein. Unverzichtbar seien politische und historische Bildung – als Schutz gegen die „Meister der Propaganda“ im permanenten Bürgerkrieg und um den harten Forderungen des „heißen Krieges“ an den Soldaten als Einzelkämpfer gerecht zu werden. Damit ist auch klar, dass sich das Handbuch nicht nur an die Vorgesetzten wendet. „Innere Führung geht jeden an“, heißt es in der Zusammenfassung. Werfen wir nun einen kurzen Blick auf die verschiedenen Kapitel des Handbuchs. Für einen Soldaten ist es nicht ungewöhnlich, dass es mit Ausführungen zum Eid beginnt. Überrascht dürfte der heutige Leser allerdings darüber sein, dass dabei unbefangen Bezug genommen wird zu Gott als der höchsten und letzten Instanz. Der Soldat soll Gott gehorchen und seinem Gewissen in Selbstverständnis und praktischem Tun höchste Priorität einräumen. Die Verfasser des Handbuchs dachten indessen schon damals an diejenigen, die nicht religiös waren, indem sie schreiben: „Aber auch der, der nicht an einen personalen Gott glaubt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er den Eid vor einer letzten Instanz ablegt. Wer aber keine sittlichen Werte erkennen und anerkennen will, stellt sich selbst im Grunde außerhalb unserer Ordnung.“ Hohe sittliche Werte bilden die Orientierungspunkte für soldatisches Handeln auf allen Ebenen. Und die Bundeswehr muss ihren Angehörigen ermöglichen und sie dazu ermutigen, diese innere Werteordnung, wenn sie noch nicht vorhanden ist, zu schaffen und zu festigen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, ihren Glauben zu leben oder neu zu finden. Denn, so heißt es im Abschnitt „Soldat im permanenten Bürgerkrieg“: „Nur echtes Selbstverständnis trägt und hält auch in der Krise stand“. Im nächsten Kapitel analysieren die Autoren des Handbuchs das damalige Kriegsbild. Das Nachdenken über den Krieg der Zukunft steht also mit am Anfang der Inneren Führung. Diese ist von ihren Gründern sehr wohl vom scharfen Ende her gedacht worden – und nicht, wie Kritiker ihr vorwarfen, als Anbiederung an die Zivilgesellschaft. Es ging ihnen zunächst und vor allem um ihre Schlagkraft und nicht um ihre Vereinbarkeit mit gesellschaftlichen Trends. Gleichwohl stellt das Handbuch deutlich heraus, dass die Schlagkraft der Truppe auch von der Unterstützung durch Politik und Gesellschaft abhängig ist. Sie beruht auf Voraussetzungen, welche die Bundeswehr selbst nicht schaffen kann. In einem einprägsamen Bild heißt es: „Der Kämpfende kann sich nur noch als Speerspitze verstehen, deren Stoßkraft wesentlich von der Wucht des langen Schaftes abhängt.“ Von daher kommt es auch für die Bundeswehr darauf an, keinen Fremdkörper in der Gesellschaft zu bilden, Vertrauen zu schaffen und den Dialog über Fragen von Krieg und Frieden mit allen Bürgern und Bürgerinnen zu suchen. In den Aufbaujahren der Bundeswehr gab es Kontroversen über das gültige Kriegsbild und die daraus zu ziehenden Folgerungen für Struktur und Bewaffnung sowie Führung und Ausbildung. Die Verfasser des Handbuchs waren davon überzeugt, dass die Bundeswehr 1955 nicht anfangen konnte, wo die Wehrmacht 1945 militärisch aufgehört hatte – weil das Kriegsbild sich vor allem durch neue Technologien massiv verändert hatte. Unter dem Stichwort „Soldat im heißen Gefecht“ heißt es: „Das Gefecht der Zukunft ist weder eine mechanisch ablaufende Kollektivschlacht noch besteht es ausschließlich aus Einzelkämpfen – es ist ein dynamisch-technisches Gefecht. Es wird getragen von der Initiative einzelner Soldaten und Gruppen, die aus Verantwortung und Einsicht im Rahmen einer verstandenen Gesamtabsicht handeln.“ Die Auftragstaktik stehe daher weiterhin im Mittelpunkt von Truppenführung und soldatischer Erziehung. Die Existenz der Atomwaffen, vor allem die damalige deutliche nukleare Überlegenheit der NATO gegenüber dem Warschauer Pakt, führte zu einer weiteren fundamentalen Annahme, aus der heraus die Bedeutung der geistigen Rüstung ersichtlich wird. Die Autoren des Handbuchs gingen davon aus, dass die Sowjetunion ihre Aggression gegenüber dem Westen ins Geistige verlagern würde. Erst nachdem Demokratien mit Mitteln der Desinformation, Subversion und Propaganda moralisch geschwächt worden sind, würde ein Waffengang gewagt werden. Kein Wunder also, dass die politische Bildung sozusagen die erste Verteidigungslinie wurde. Politische Bildung war also keine zweckfreie Allgemeine Bildung, sondern ein zentraler Bestandteil einer berufsbezogenen Bildung und damit von militärischer Schlagkraft. Aus dem Kriegsbild des permanenten Bürgerkriegs leiteten die Väter der Inneren Führung ihre These ab, dass eine gute handwerkliche Ausbildung, eine hohe Anzahl an Hauptwaffensystemen oder die Befähigung zum Kampf der verbundenen Waffen nicht hinreichend seien. Handwerkliche Ausbildung müsse notwendigerweise durch geistige Rüstung ergänzt werden. Auch hierfür bietet das Handbuch eine überzeugende Wortwahl. So heißt es beispielsweise in dem Kapitel über die Truppen-Information: „Waffen allein sind nicht schlagkräftig. (...) Die geistige Haltung des einzelnen ist hier das besondere Ziel feindlicher Angriffe, die keineswegs so klar erkennbar vorgetragen werden wie im heißen Gefecht.“ Eindeutig wird das Ziel formuliert: „Es geht darum, den einzelnen Soldaten zu einem reifen und verantwortungsbewussten Staatsbürger zu erziehen, der weiß, wieviel von seiner Entscheidung, von seiner Kenntnis der Zusammenhänge, von seinem Freiheitsbewußtsein abhängen.“ Das Kriegsbild diente ihnen übrigens auch als Begründung für den Verzicht auf eine gesellschaftliche Sonderstellung des Soldaten; denn im atomar geführten Krieg sei die Zivilbevölkerung in gleichem Maß betroffen. Den heutigen Leser dürfte überraschen, wie viel Geschichte im Handbuch steckt. Immer wieder weisen die Autoren auf historische Ereignisse und Personen oder auch Institutionen und Prinzipien hin, um ihre Argumente zu veranschaulichen. Nicht selten bewerten sie diese als traditionswürdig für die neuen deutschen Streitkräfte. Das Kapitel über Tradition ist sogar das längste der insgesamt neun Kapitel. Erneut gelingt es ihnen, den Zweck von Tradition anschaulich zu beschreiben. Darin heißt es: „Tradition schafft Gemeinsamkeit des Lebensgefühls und der Wertvorstellungen; sie gibt dem Einzelnen Halt und dem Ganzen Verlässlichkeit.“ Stärker als die drei Traditionserlasse hebt es hervor, dass Tradition eine harte Arbeit des Einzelnen an sich selbst ist. Das hat auch mit dem notwendigen und sicherlich nicht einfachen Bruch mit der Wehrmacht zu tun. Damals verfolgten Millionen ehemaliger Wehrmachtssoldaten den Neuaufbau deutscher Streitkräfte. Deren Meinungen waren wichtig - nicht nur für die gesellschaftliche Akzeptanz der neuen deutschen Streitkräfte. Viele von ihnen wurden für den Aufbau der Bundeswehr benötigt; und deren Söhne sollten schon bald als Wehrpflichtige einberufen werden. Einerseits wollten die Autoren des Handbuchs klarstellen, dass die Verteidigung von Recht und Freiheit andere Forderungen an die Persönlichkeit eines Soldaten richtet als die Vorgängerarmeen der Bundeswehr. Andererseits mussten sie behutsam mit Traditions- und Brauchtumfragen umgehen; Kompromisse waren nötig, auch im Hinblick auf die Innere Führung selbst. So überrascht die Aussage im Handbuch, dass die Innere Führung selbst keine Erfindung der Bundeswehr sei. Sie sei „... nur ein neuer Begriff für ein Bündel von Führungsaufgaben, die es zu allen Zeiten in der Truppe gegeben hat, die uns heute aber in neuer Form und nachdrücklicher als früher gestellt sind.“ Dass tatsächlich mehr an Altem in dem Neuen drin war als gedacht, darauf weist auch der Militärhistoriker Frank Nägler in seinem Buch „Der gewollte Soldat und sein Wandel“ hin. Dennoch ist im Handbuch die Abgrenzung zur Wehrmacht deutlich herauszulesen, wenn es heißt, dass der „... Zusammenbruch der alten Wertewelt ... vollständig“ war. Wenn es um den Eid oder das Leitbild, wenn es um die Beziehungen zwischen Politik, Gesellschaft und Militär oder wenn es um Führung und Erziehung geht, dann wird dem Leser deutlich, dass die Bundeswehr „grundsätzlich anders“ sein sollte als die Wehrmacht. Damit kommen wir zum militärischen Widerstand gegen Hitler, einem weiteren wichtigen Kapitel des Handbuchs. Bereits im Personalgutachterausschuss für neu einzustellende Offiziere ab dem Dienstgrad Oberst bildete die Bewertung des Attentats vom 20. Juli 1944 die Gretchenfrage. Der Widerstand als verpflichtendes Erbe soll den neuen deutschen Soldaten verdeutlichen, dass soldatisches Dienen nur dann würdevoll sein kann, wenn es sittlich gebunden ist, einem demokratischen Staat dient und die Menschenwürde jederzeit, auch im Krieg, geachtet wird. In den weiteren Kapiteln geben die Autoren wertvolle Hinweise, wie Vorgesetzte führen und erziehen sollen. Sie sind heute noch lesenswert. Dabei übertragen sie auch moderne Entwicklungen im Umgang mit Arbeitern in der Industrie auf die Streitkräfte. Die Gruppenselbstarbeit wird hier als eine zentrale Methode zur Förderung von Mitverantwortung vorgestellt. Das Handbuch Innere Führung von 1957 war ein großer Wurf, dessen Re-Lektüre wir gerne empfehlen. Es soll allerdings nicht verhehlt werden, dass es auch Defizite aufweist. Es ist kein Werk aus einem Guss. Dies ist kein Wunder, wenn man sich dessen Entstehungsgang anschaut. Als die ersten Freiwilligen, in der Regel ehemalige Wehrmachtsoffiziere und -unteroffiziere sowie Angehörige des Bundesgrenzschutzes, in die Bundeswehr eintraten, musste schnell etwas her, um ihnen das Neue an den neuen westdeutschen Streitkräften nahezubringen. In ihrer Zeitnot griffen Baudissin und seine Mitarbeiter auf Vorträge zurück, die sie während eines Fortbildungslehrgangs in Sonthofen gehalten hatten. Hinzu kommt: Im Amt Blank und dem späteren Bundesministerium für Verteidigung betrachteten manche die Überlegungen Baudissins mit großer Skepsis. Die Vorwürfe gingen so weit, dass die Autoren des Handbuchs in der Zusammenfassung klarstellen mussten, was Innere Führung nicht ist: Sie meine eben nicht die „Auflösung der soldatischen Disziplin“ und bedeute nicht eine „Verweichlichung der Soldaten“. Auch heute findet die Innere Führung ihre Kritiker und man darf gespannt sein, wie die Autoren des neuen Handbuchs damit umgehen. Die von vielen sehnsüchtig gewünschte Definition der Inneren Führung sucht der Leser auch im alten Handbuch vergebens. Allerdings findet sich darin eine Aufgabenbeschreibung. Unter der Überschrift „Hauptaufgaben der Inneren Führung“ heißt es: „Innere Führung umfasst 1. Die geistige Rüstung, 2. Die zeitgemäße Menschenführung. Beide – geistige Rüstung und zeitgemäße Menschenführung – sind Voraussetzungen für die Schlagkraft der Truppe.“ Bereits auf den ersten Seiten legten die Autoren fest: „Innere Führung ... bedeutet nichts anderes als Menschenführung, und damit Erziehung im weitesten Sinne.“ Diese Aussagen sind verwirrend. Allein die kurzen Auszüge dieser Besprechung aus dem Handbuch belegen, dass Innere Führung weit umfassender ist als Menschenführung und politische Bildung. Unter anderem findet der Leser an vielen Stellen wichtige Aussagen zum Verhältnis des Soldaten zu Politik und Gesellschaft. Und was bedeutet überhaupt Erziehung? Das Handbuch enthält ein mehrseitiges Kapitel über die Erziehung des Soldaten mit wichtigen Leitsätzen. Aber auch dieser Begriff wird nicht näher definiert. Wer aber unter soldatischer Erziehung das verstand, was er in Familie und Schule erlebt hatte, lag völlig daneben. Zumindest stellten die Autoren klar, dass Erziehung eine Aufgabe des Vorgesetzten ist. Zur Veranschaulichung nutzten sie den Begriff der Erlebnistherapie: Vorgesetzte sollen qua ihrer Machtbefugnisse den soldatischen Dienst so gestalten, dass „das größtmögliche Maß an Selbstdisziplin, Initiative, Verantwortungsfreude und mitdenkendem Gehorsam geweckt wird“. Wichtig ist der Hinweis, dass Vorgesetzte nur erfolgreich erziehen könnten, wenn die Unterstellten bereit sind, sich selbst zu erziehen. Erziehung und Selbsterziehung müssen also im Gleichschritt gehen. Erneut wird klar, dass das Handbuch allen Soldaten unabhängig von ihrem Dienstgrad Hilfen anbieten will. Insgesamt erläutert das Handbuch Innere Führung sehr anschaulich, was für das Soldatsein in den neuen deutschen Streitkräften wichtig ist. Die zentralen Begriffe bilden einen überzeugenden Sinnzusammenhang. Zu Recht weist das Handbuch Innere Führung auf etwas hin, was der Theologe Christian Göbel in seinem Buch „Glücksgarant Bundeswehr?“ herausgearbeitet hat: dass der Dienst in der Bundeswehr zu Zufriedenheit und sogar Glück führen kann. Voraussetzung ist: Man muss sich mit der Inneren Führung gedanklich auseinandersetzen – als harte Arbeit an sich selbst und als partnerschaftliches Gespräch unter Staatsbürgern in und ohne Uniform. Zwar bietet das Handbuch keine systematische Theorie, worauf Thomas Wanninger in seinem Buch „Kritik der Inneren Führung“ hinweist; es enthält jedoch die bis heute überzeugendste Meistererzählung zum soldatischen Dienen in einer Demokratie. Zum Schluss sei noch eine kritische Frage, die sich geradezu aufdrängt, angesprochen. Kann ein Buch überhaupt Anstoß und Wegweiser für einen Neuanfang in Selbstverständnis und Führungskultur einer Armee sein? Aus heutiger Sicht erscheint dies recht naiv. Wer liest noch Bücher? Und wer nimmt ein Buch zum Anlass, über sich selbst und seinen Beruf nachzudenken? Es ist daher eine gute Idee, das neue Handbuch Innere Führung durch einen multimedialen Instrumentenkasten mit Podcasts und Videoclips zu ergänzen. Die Autoren des alten Handbuchs Innere Führung vertrauten noch der Kraft des geschriebenen Wortes. Und auch darauf, dass Leser nicht nur unterhalten werden wollen, sondern intensiv nachdenken und dabei auch das Gespräch mit anderen suchen. Dem neuen Handbuch Innere Führung ist zu wünschen, dass dieses nachdenkliche Gespräch zustande kommt. Das war „Angelesen! Das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Handbuch Innere Führung von 1957.

von Uwe Hartmann

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