Generalleutnant Hans Röttiger- Transkript

Generalleutnant Hans Röttiger- Transkript

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Herzlich Willkommen zu „Angelesen.“ Dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir den Sammelband „Militärische Aufbaugeneration der Bundeswehr“, herausgegeben von Helmut R. Hammerich und Rudolf J. Schlaffer, vor. Darin werden Biographien von Soldaten verschiedener Dienstgradgruppen aus der Aufbaugeneration der Bundeswehr vorgestellt. Exemplarisch soll an dieser Stelle der Lebensweg und die Dienstzeit des ersten Inspekteurs des Heeres der Bundeswehr, Generalleutnant Hans Röttiger, besprochen werden. Der hier thematisierte Aufsatz „Von der Freiheit der Gewissensentscheidung: Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Hans Röttiger“ stammt von der Historikerin Kerstin von Lingen.
Der 1896 in Hamburg geborene Hans Röttiger war Sohn eines Gymnasialdirektors und trat im Jahre 1914 als Fahnenjunker in das Lauenburgische Fußartillerie-Regiment Nr. 45 ein. Das hierfür unterbrochene Abitur konnte er erst 3 Jahre später während eines Fronturlaubs nachholen und hatte somit erst verspätet die Voraussetzung für den Offizierberuf erlangt. Noch im Jahre 1914 wechselte er dann nach seiner Beförderung zum Unteroffizier in das Lauenburgische Fußartillerie-Regiment Nr. 20 und nahm an der Ostfront an der Schlacht von Lemberg teil. Später war er noch in Verdun, an der Somme sowie in verschiedenen Flandernschlachten in Belgien eingesetzt. Für seine Bewährung als Frontoffizier wurde Röttiger mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse ausgezeichnet. Mit einer Verwendung als Ordonnanzoffizier im Oberkommando der Heeresgruppe „Deutscher Kronprinz“ endete für ihn der Erste Weltkrieg. Es bot sich im Anschluss für ihn die Möglichkeit, als einer von wenigen Truppenoffizieren in die kleine Reichswehr übernommen zu werden. Hier diente er zunächst als Batteriechef im Artillerie-Regiment Nr. 4, dann im Stab der Reichswehrbrigade IV und als Abteilungsadjutant. Der Wechsel zwischen Stabs- und Truppenverwendungen verlief für Hans Röttiger kontinuierlich und auch seine Beförderungen erhielt er mit der für Reichswehrverhältnisse angemessenen Stetigkeit, 1925 zum Oberleutnant und 1930 zum Hauptmann. Ein vorheriges Ersuchen um Dienstzeitangleichung seines Leutnantspatents zu Beginn der 20er Jahre hatte ihm eine wirtschaftliche Besserstellung ermöglicht, sodass er 1923 ein Heiratsersuchen stellen konnte. Erst mit 34 Jahren konnte er am Führergehilfenlehrgang teilnehmen, einem getarnten Generalstabslehrgang der Reichswehr. Das ermöglichte ihm den Weg in den Generalstab und den anschließenden bedeutenden Aufstiegs-möglichkeiten. Neben dieser neuen Laufbahnperspektive bot sich für Röttiger in der Übergangszeit von der Reichswehr zur Wehrmacht ein Tätigkeitsfeld, welches ihn für den Rest seiner soldatischen Laufbahn prägen sollte, nämlich die Konzeption und der Einsatz der Panzerwaffe. Als in der Wehrmacht die ersten drei Panzerdivisionen aufgestellt wurden, befand sich Röttiger an leitender Stelle im zuständigen Planungsstab in der Heeresführung. Er profitierte einerseits von der starken Heeresvermehrung in den 30er Jahren und der damit einhergehenden Technisierung und andererseits von dem Prinzip der Leistungsbeförderung, welches das bisherige Prinzip der Beförderung nach Dienstalter ersetzte. Als Referent in der technischen Abteilung des Generalstabs diente Röttiger unter Walter Model. Dort beschäftigte er sich mit einer Fülle an technischen Fragen in den Bereichen Rüstung, Ausrüstung, Instandsetzung und Logistik. Obwohl er sich hierbei einiges an Expertise über die schnellen Truppen erarbeiten konnte, wurde er im Anschluss erster Generalstabsoffizier einer Infanterie-Division, was ihm überhaupt nicht zusagte, jedoch mit konkreten Einsätzen wie der Besetzung Österreichs und des Sudetenlandes im Jahr 1938 verbunden war. Mit der Beförderung zum Oberstleutnant wurde er als sein Chef des Stabes einer der engsten Mitarbeiter von General der Panzertruppen Heinz Guderian, der sich wie kein anderer mit Organisation und Einsatzgrundsätzen der noch sehr jungen Waffengattung der Panzertruppen beschäftigte. Hans Röttiger war dabei mit der Erstellung von Vorschriften beauftragt sowie der technischen und taktischen Ausbildung des Heeres im Bereich der Motorisierung und Mobilmachung für einen möglichen Kriegsbeginn. Nach dem Polenfeldzug 1939 war Röttiger zunächst als erster Generalstabsoffizier eines Armeekorps am Westwall eingesetzt, bevor er 1940 als Chef des Stabes von General der Panzertruppen Hans-Georg Reinhardt im Westfeldzug die Maas überquerte und bis zum Ärmelkanal durchbrach. Auch im anschließenden Balkanfeldzug und ab dem 22. Juni 1941 gegen die Sowjetunion konnte der mittlerweile zum Oberst beförderte Röttiger sein konzeptionelles Wissen über die Panzertruppe in die Operationsführung von Armeekorps und Armeen einbringen. Er stieß mit den Panzertruppen der Heeresgruppe Mitte vor und erlebte die Kesselschlacht von Wjasma und Brjansk, bevor die Offensive im Oktober 1941 vor Moskau zum Stehen kam. Hans Röttiger wurde 1942 zum Generalmajor befördert. Bei der Heeresgruppe Mitte bekam er in dieser Zeit Kenntnis von den Morden an Juden und Kommunisten durch die Einsatzgruppe A. Er belastete seinen damaligen Vorgesetzten, den Generaloberst Gotthard Henrici, in den Nürnberger Prozessen schwer. Bis Anfang 1944 blieb Röttiger in mehreren Generalstabsverwendungen an der Ostfront, wechselte jedoch zur Heeresgruppe Süd und wurde mit der Auflösung der Stäbe Erich von Mansteins und Ewald von Kleists in die Führerreserve versetzt. In seiner letzten Verwendung war er schließlich Chef des Stabes der Heeresgruppe C in Italien unter Generalfeldmarschall Albert Kesselring. In dieser Funktion wurde er im Januar 1945 zum General der Panzertruppen befördert. Hier erlebte Röttiger auch das Kriegsende, welches für ihn zu einem Schlüsselereignis im Berufsverständnis als Offizier werden sollte. Generaloberst Heinrich Vietinghoff vertrat Ende April 1945 den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C, Generalfeldmarschall Kesselring, und nahm in dieser Funktion Verbindung zu den Westalliierten auf, um eine Kapitulation deutscher Truppen auf dem südwestlichen Kriegsschauplatz zu erreichen. Als Kesselring davon erfuhr, ließ er Vietinghoff und seinen Stabschef Röttiger festnehmen und unter Arrest stellen. Röttiger und sein Vorgesetzter Vietinghoff kamen schließlich mit dem Inkrafttreten der Kapitulation am 2. Mai 1945 wieder frei, jedoch sollten die Geschehnisse um diese Kapitulationsverhandlungen einen heftigen Diskurs zwischen den beteiligten Offizieren in der Nachkriegszeit auslösen. Die Debatte entflammte um die Frage, ob ein Oberbefehlshaber in einer aussichtslosen militärischen Lage lieber den Mut für eine Kapitulation aufbringen oder den Kampf bis zur letzten Patrone aber auf Kosten des unterstellten Bereichs führen sollte. Das Verhalten der in Italien eingesetzten Offiziere hinsichtlich dieser Frage wurde in den 50er Jahren sogar eine Entscheidungshilfe im Personalgutachterausschuss für die Bundeswehr. Röttiger hatte mit seiner Position, einen sinnlosen Kampf aufzugeben, die öffentliche Meinung spätestens seit den 50er Jahren hinter sich, denn die Verbrechen gegenüber eigenen Untergebenen in Form von Standgerichtsurteilen und Haltebefehlen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurden zunehmend juristisch und moralisch aufgearbeitet. Nach der Kriegsgefangenschaft und mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bot sich für Hans Röttiger die Möglichkeit, sicherheitspolitische Grundlagenarbeit für die junge Demokratie zu leisten. Fünfzehn handverlesene ehemalige Offiziere der Wehrmacht, darunter auch Röttiger, waren Teil einer Expertengruppe, die unter strenger Geheimhaltung im Kloster Himmerod tagten und dabei die Möglichkeit zur Aufstellung westdeutscher Streitkräfte im Rahmen einer übernationalen Streitmacht bewerteten. Auch hier kam wieder Röttigers konzeptionelle Befähigung zum Tragen, als er mit Adolf Heusinger zusammen in einer Arbeitsgruppe die Organisationsfragen hierfür erarbeitet. Im Ergebnis sollte Deutschland in der Lage sein, 12 Panzerdivisionen als mobile Umfassungskräfte aufzustellen, die einen möglichen Angriff der Sowjetunion mit Hilfe der NATO-Bündnispartner auffangen sollten. Hans Röttiger vertrat aber nicht nur in Fragen der Gliederung und Ausbildung, dass etwas grundlegend Neues geschaffen werden sollten, sondern auch in Bezug auf die parlamentarische Kontrolle und dem Primat der Politik bei der Führung der Streitkräfte. Als die Aufstellung einer westdeutschen Armee näher rückte, war Hans Röttiger bereit, seine bisherige Tätigkeit als Geschäftsführer in der Privatwirtschaft aufzugeben und eine Verwendung in der Bundeswehr anzutreten. Im zuständigen Personalgutachterausschuss, der über die Wiederverwendung von Spitzenmilitärs ab dem Dienstgrad Oberst/Kapitän zur See bestimmte, hatte er starke Fürsprecher, insbesondere wegen seiner großen Fachkompetenz in Bezug auf die Panzertruppe als auch wegen seiner ethisch fundierten Entscheidung, einen aussichtlosen Kampf in Italien bei Kriegsende einzustellen.  Für die Bundeswehr wurde er schließlich als erster Inspekteur des Heeres ausgewählt, obwohl er in der Wehrmacht keine einzige Verwendung als Kommandeur oder Truppenführer durchlaufen hatte, was ihm Kritiker wie Erich von Manstein vorwarfen und ihm so die Eignung absprachen. Doch gerade in der Aufstellungsphase des Heeres überzeugte Röttiger mit seinem fachlichen Sachverstand und seiner ethischen Urteilskraft. So sprach er sich gegen eine nukleare Aufrüstung der Streitkräfte aus, da er vermeiden wollte, dass einzelne Befehlshaber Befehle für eine atomare Massenvernichtung geben müssten. Außerdem sollte Deutschland nicht zum atomaren Gefechtsfeld beider Konfliktparteien werden. Des Weiteren setzte Röttiger die Brigade als Kernelement des Heeres durch und verwirklichte damit europaweit einen Standard in der einfachen und beweglichen Gefechtsführung mit Panzern und Panzergrenadieren. Bereits 1959 empfahl die NATO seinen Mitgliedstaaten die Übernahme des deutschen Modells der Brigadegliederung, die bis in die Gegenwart Muster der meisten NATO-Verbände geworden ist. Die Einnahme des Heeres in die Gliederung mit 12 Divisionen konnte Hans Röttiger jedoch nicht mehr miterleben. In den letzten Jahren seines Lebens litt er an einer Krebserkrankung und verstarb am 15. April 1960 im Amt. Generalleutnant Hans Röttiger war ein typischer Vertreter der Gründungsgeneration der Bundeswehr. Er bewährte sich als Frontoffizier im Ersten Weltkrieg und schaffte es nach einem allmählichen Vorankommen in der Reichswehr in die Eliteränge der Wehrmacht aufzurücken. Als Generalstabsoffizier beschäftigte er sich in den 30er Jahren, aber auch in seinen Verwendungen im Zweiten Weltkrieg mit der Organisation und dem Einsatz der Panzertruppen. An der Ostfront erlebte er, wie seine Vorgesetzten Entscheidungen zu Kriegsverbrechen trafen, und er entschloss sich in den Nürnberger Prozessen, gegen diese auszusagen. Die Freiheit der Gewissensentscheidung, mit der er bei Kriegsende in Italien konfrontiert war, blieb jedoch der Kern von Röttigers Kriegserfahrung. Mit der Aufstellung der Bundeswehr, für die er als Inspekteur des Heeres ausgewählt wurde, festigte sich Röttigers Einstellung, dass eine neue Armee die Fehler der alten nicht wiederholen dürfe und gerade nicht da wieder angesetzt werden sollte, wo man mit blindem Gehorsam und falsch verstandener Loyalität am 8. Mai 1945 stehen geblieben war. Der Sammelband über die militärische Aufbaugeneration bietet insgesamt einen sehr guten Überblick über die Chancen und Herausforderungen, die sich bei der personellen Aufstellung der Bundeswehr boten. Dabei gelingt es den Herausgebern, einen ausgewogenen Überblick über alle Dienstgradgruppen hinweg zu bieten. Vom einfachen Gefreiten über den erfahrenen Feldwebel als Meister seines Faches bis zum prominenten Spitzenmilitär bieten die Aufsätze interessante und abwechslungsreiche Perspektiven.

Das war „Angelesen.“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, heute zum Buch von Helmut Hammerich und Rudolf Schlaffer, Militärische Aufbaugenerationen der Bundeswehr 1955 bis 1970 vor. Es erschien im Jahr 2011 im Oldenbourg-Verlag.
 

von Johannes-Paul Kögler