Erziehung in der Bundeswehr- Transkript

Erziehung in der Bundeswehr- Transkript

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Herzlich willkommen zu „Angelesen“, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir Ihnen das Buch „Erziehung in der Bundeswehr“ des Potsdamer Militärhistorikers Kai Uwe Bormann vor. Es trägt den Untertitel „Konzeption und Implementierung militärischer Erziehungsgrundsätze in der Aufbauphase der Bundeswehr 1950 bis 1965“. Es erschien 2021 im De Gruyter Verlag. „We don’t need no education“ heißt es in einem bekannten Lied von Pink Floyd. Ein Kinderchor singt den Refrain als eine Anklage an die Erwachsenen. Lasst uns doch endlich in Ruhe mit Euren selbstherrlichen Erziehungsabsichten – das ist deren unverblümte Botschaft. Eine Binse ist dagegen die Auffassung, dass Erwachsene nicht mehr erzogen werden. Daher irritiert der Erziehungsauftrag, den Vorgesetzte in der Bundeswehr haben. Dürfen und können erwachsene Soldaten überhaupt noch erzogen werden? Und wenn ja, wie sieht soldatische Erziehung dann in der Praxis aus? Soll etwa der 25jährige Leutnant den lebens- und einsatzerfahrenen 48jährigen Stabsfeldwebel erziehen? Es ist kein Wunder, dass in den 1990er Jahren vor allem Angehörige des Zentrums Innere Führung sich für eine Abschaffung des Erziehungsauftrags einsetzten. Aus ihrer Sicht war der tradierte Erziehungsauftrag nicht mit dem Leitbild des Soldaten als eines mündigen Staatsbürgers in Uniform vereinbar. Auch der späte Wolf Graf von Baudissin sprach lieber von Bildung als von Erziehung. Er meinte sogar, er habe niemals von Erziehung, sondern immer nur von Bildung gesprochen. Ein Blick zurück in die 1950er Jahre zeigt allerdings, dass Erziehung ein fast schon inflationär gebrauchter Begriff war. Im Handbuch Innere Führung von 1957, dessen wichtigste Kapitel aus der Feder Baudissins stammen, heißt es sogar, Innere Führung sei im Wesentlichen Erziehung. Um Klarheit in den schillernden Erziehungsbegriff zu bringen, ist die Studie von Kai Uwe Bormann überaus hilfreich. Er blickt zurück in die Aufbauphase der Bundeswehr und rekonstruiert, was damals unter Erziehung von Soldaten verstanden wurde – in der Bundeswehr, aber auch in der westdeutschen Gesellschaft. Anschaulich zeigt der Autor auf, welch traditionelle Erwartungen Eltern mit dem Wehrdienst ihrer Söhne verbanden. Viele Väter hofften, dass man den „... Herren Söhnen bald einmal nach alt bewährter preußischer Art die Hammelbeine lang ziehen werde“. Ähnlich äußerten sich Mütter. Sie erhofften sich „von der Bundeswehr die Erziehung ihres missratenen Sohnes“. Eine im Auftrag des Spiegels durchgeführte Meinungsumfrage kam zu dem Ergebnis, dass viele Bürger und Bürgerinnen die Streitkräfte als eine notwendige pädagogische Einrichtung betrachteten. Auf die Frage, ob man bei der Organisation der Bundeswehr die militärischen Verteidigungsaufgaben oder die Erziehung der jungen Männer priorisieren sollte, votierten 43 Prozent der Befragten für die Erziehung. Lediglich 14 Prozent räumten den Verteidigungsaufgaben den Vorrang ein. Wer sich die aktuelle Debatte über die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht oder gar die Wiedereinführung der Wehrpflicht anhört, bekommt den Eindruck, dass damit immer noch große erzieherische Wirkungen auf die jungen Erwachsenen verbunden werden. Allerdings blieben die damaligen Deutschen pessimistisch, was die militärischen Erziehungsmethoden betraf. Eine Mehrheit glaubte, dass es „wie früher“ werden würde. Offenbar hatten sich die literarisch und cineastisch überzeichneten Figuren wie Feldwebel Himmelstoß aus Im Westen nichts Neues und Feldwebel Platzek aus 08/15 in das kollektive Gedächtnis der Deutschen tief eingebrannt. Mit Skepsis verfolgten sie, ob Vorgesetzte die Achtung der Menschenwürde auch in der soldatischen Erziehung gewährleisten würden. Den Planern der Bundeswehr ging es allerdings nicht um die Korrektur missratener Söhne, sondern um die möglichst hohe Schlagkraft der Streitkräfte. Dafür hielten sie die soldatische Erziehung für unverzichtbar. Erstmals in der Himmeroder Denkschrift von 1950, an deren Ausarbeitung auch Wolf Graf von Baudissin mitgewirkt hatte, war formuliert worden, Charakterbildung und Erziehung des Soldaten seien in ihrer Gewichtung der militärischen Ausbildung gleichrangig. Später sprachen manche sogar von einem Primat der Erziehung. Die hohe Bedeutung soldatischer Erziehung begründeten Baudissin und seine Mitarbeiter mit dem Kriegsbild. Sie gingen fest davon aus, dass die Sowjetunion einen Angriff auf den demokratischen Westen erst dann führen würde, wenn deren Bürgerinnen und Bürger durch Desinformation, Propaganda und Subversion geistig-moralisch geschwächt seien. Daher musste er darauf ankommen, vor allem die Soldaten von der Verteidigungswürdigkeit der Demokratie sowie dem Wert von Recht und Freiheit zu überzeugen. Ihre Idee war: Der soldatische Dienst musste weitestmöglich die freiheitliche demokratische Grundordnung widerspiegeln. Konkret bedeutete dies: Jederzeit die Menschenwürde achten, staatsbürgerliche Rechte so wenig wie möglich einschränken, Freiräume für die Beteiligung im Dienst gewähren und begründete politische und religiöse Überzeugungen respektieren. Zudem sollte der Soldat in die Gesellschaft integriert sein und sich von den Bürgerinnen und Bürgern anerkannt und respektiert fühlen. Diese Gedankengänge sind die Grundlage für das Integrationsmodell des „Staatsbürgers in Uniform“. Er sollte freier Mensch, vollwertiger Staatsbürger und guter Soldat zugleich sein. Die Reformer vertrauten darauf, dass fest in der demokratischen Gesellschaft verankerte Soldaten, die freiheitlich-demokratische sowie rechtsstaatliche Werte auch während des Wehrdienstes erfahren, gegenüber totalitärer Indoktrination immun seien. Um ihr Land bei einem bewaffneten Angriff zu verteidigen, würden sie aus Einsicht gehorchen und ihr Leben in die Waagschale werfen. Aus ihren grundlegenden Annahmen über den Krieg der Zukunft leiteten Baudissin und seine Mitstreiter ein neues Verhältnis des Soldaten zum Krieg ab. Angesichts des drohenden Einsatzes atomarer Waffen könne Krieg kein Feld ersehnter Bewährung mehr sein, wo Mannestugenden geweckt und bestätigt werden. Ernst Jüngers Kriegertypus, der „seine höchste Freiheit im Untergang“ sah, war als Erziehungsziel obsolet geworden. Eine Heroisierung des Soldatentodes auf dem Schlachtfeld war sinnlos, wenn nach einem atomaren Schlagabtausch, wie Baudissin es drastisch ausdrückte, „Kirchhofsruhe“ herrschte. Denn dann würde es keine Menschen mehr geben, die sich ruhmreicher Taten erinnern könnten. Soldaten sollten also dazu beitragen, einen Krieg durch ein Höchstmaß abwehrbereiter Kriegstüchtigkeit zu verhüten. Darin bestand ihre vorrangige Bewährung. Wie sollte die Erziehung dieses neuen Soldatentyps in der Praxis funktionieren? Der Vorgesetzte als Schleifer seiner Soldaten, der Drill als Erziehungsmittel zu ihrer Entpersönlichung einsetzt, sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Grundlegend Neues war gefordert. Hierfür holte sich Baudissin Rat von den damals bekanntesten Universitätspädagogen. Kai Uwe Bormann stellt ausführlich da, wie intensiv und fruchtbar diese Zusammenarbeit war. Einvernehmen bestand darüber, dass die soldatische Erziehung, also das zielgerichtete Einwirken auf erwachsene Staatsbürger in Uniform, auf eine „indirekte Erziehung“ begrenzt werden musste. Soldatische Erziehung sollte keine direkte, auf das Innere der Person zielende pädagogische Intervention sein. Denn damit würde das Tor zur Entpersönlichung des Einzelnen weit aufgemacht. Die Achtung der Menschenwürde und der Respekt vor der Individualität des Soldaten wären mit einem derartigen Erziehungsverständnis nicht zu gewährleisten gewesen. Vorgesetzte sollten vielmehr ihre mit Dienstgrad und Dienststellung gegebenen Machtbefugnisse nutzen, um die äußeren Rahmenbedingungen des militärischen Dienstes so zu gestalten, dass erzieherische Ziele wie beispielsweise die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung erreicht würden. Erziehung forderte also von Vorgesetzten, so zu führen und auszubilden, dass der Soldat zum Mitdenken angeregt und ihm Raum für Eigeninitiative gewährt wird. Um dem Soldaten diese Übernahme von Verantwortung zu erleichtern, sollten Vorgesetzte erklären, warum sie in einer bestimmten Art und Weise führten und was sie von ihren Soldaten erwarteten. Baudissin fand dafür den eingängigen Begriff der „Erlebnistherapie“. Indirekte Erziehung und Erlebnistherapie beruhten allerdings auf mehreren Voraussetzungen: Zum einen mussten Vorgesetzte bereit und befähigt sein, ihr Führungs- und Ausbildungsverhalten nach pädagogischen Zielvorstellungen zu gestalten. Sie mussten sich die selbstkritische Frage stellen, warum sie so und nicht anders führten und ausbildeten; und sie mussten bereit sein, dies ihren Soldaten zu erklären, sich also ihnen gegenüber zu verantworten. Zum anderen mussten die zu erziehenden Soldaten gewillt sein, die pädagogischen Angebote ihrer Vorgesetzten anzunehmen und ihre Persönlichkeit im Sinne der militärischen Erziehungsziele weiterzuentwickeln. Dementsprechend betonte die Innere Führung die Selbsterziehung des Soldaten. Sie ist das komplementäre Gegenstück zur Erziehung durch den Vorgesetzten. Um den bereits damals von Kritikern der Inneren Führung kolportierten Vorurteilen entgegenzuwirken, sei hier betont: Die militärische Auftragserfüllung stand immer außer Frage. Bei der soldatischen Erziehung ging es nicht um das Ob, sondern das Wie der Auftragserfüllung. Die Methodik der Auftragsdurchführung war also durch den Erziehungsauftrag bestimmt. In dieser Hinsicht, nicht jedoch bezüglich der Auftragserfüllung, besaß Erziehung das Primat vor Führung und Ausbildung. Auch wenn der Erziehungsauftrag auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen begrenzt ist – für die Vorgesetzten, insbesondere die Chefs und Kommandeure, waren damit hohe Anforderungen verbunden. Sie mussten alle Maßnahmen zuvor auf deren mögliche erzieherische Auswirkungen reflektieren. Voraussetzung dafür waren nicht nur sozialwissenschaftliche Kenntnisse, sondern auch ein klares Bild über die Soldaten ihrer Einheit. Vorgesetzte benötigten also eine gehörige Portion Bildung, und sie brauchten Zeit, um ihre Soldaten genauer kennenzulernen. Wie der Militärhistoriker Frank Nägler in seiner Studie über die Innere Führung in der Aufbauphase der Bundeswehr mit dem Titel „Der gewollte Soldat und sein Wandel“ zeigen konnte, war beides nicht gegeben – viele Kompaniechefs waren damals weder ausreichend gebildet noch verfügten sie angesichts des raschen Aufbaus über die Zeit, um sich mit den Einzelnen zu beschäftigen. Befragungen aus den 1970er Jahren bestätigten, dass viele Vorgesetzte nur selten Gespräche mit ihren Soldaten führten – selbst in Ubooten nicht. Ein Beispiel für die zu hohen Erwartungen an Bildung und pädagogisches Talent der Einheitsführer war die Gestaltung des im Soldatengesetz vorgeschriebenen staatsbürgerlichen Unterrichtes. Nach Auffassung Baudissins waren nur die Chefs in der Lage, im Sinne der Erlebnistherapie den Unterricht so zu gestalten, dass die Soldaten den Zweck des Dienstes und den Sinn ihrer Aufgaben erkennen konnten. Nur derjenige, so argumentierte er, „der die Erlebnistherapie durch Ansatz und Durchführung des Dienstes leitet, ist allein zur Deutung fähig und berechtigt“. Die von seinen Kritikern oft prophezeite pädagogische Überforderung des Vorgesetzten teilte er nicht. Infolgedessen wurde auch die Einrichtung einer Hierarchie von Erziehungsoffizieren verworfen, die die Chefs und Kommandeure in der staatsbürgerlichen Erziehung ihrer Soldaten unterstützen oder ganz ersetzen sollten. Nur der Lebenskundliche Unterricht sollte durch die Geistlichen der christlichen Konfessionen gehalten werden. Es tat sich noch ein weiteres Problem auf. Wie sollte mit Soldaten verfahren werden, die sich nicht erziehen ließen? Auch darüber haben die Bundeswehrplaner intensiv nachgedacht. Der Erlass „Erzieherische Maßnahmen“ reichte dafür nicht aus. Auch die deutlich schärferen Disziplinarmaßnahmen schienen Verhaltensänderungen nicht immer zu garantieren. Daher wurde im Verteidigungsministerium über die Möglichkeit einer Versetzung renitenter Soldaten in „Sondereinheiten der Streitkräfte“ diskutiert. Zwar sollte in diesen Einheiten eine menschenwürdige Behandlung gewährleistet sein; auch Dienstzeit, Besoldung und Verpflegung sollten wie in der Truppe geregelt sein. Allerdings beschränkten sich die Aufträge auf einen arbeitstherapeutischen „Sonderdienst“, der gleichwohl den Streitkräften zugutekommen sollte. Letztlich verzichtete das Ministerium zunächst auf die Einrichtung jeglicher „Sondereinheiten“. Nichtdestotrotz gab es Mitte der 1960er-Jahre erneut Bestrebungen zur Einführung von Sonderheiten für schwer erziehbare Soldaten. Diese wurden von ihren Befürwortern unverblümt als Straf- und Bewährungsbataillone bezeichnet. Ein entsprechender Versuch bei der 6. Panzergrenadierdivision musste 1964, so hieß es in einem Bericht, „trotz bester Voraussetzungen und anfänglichem Erfolg […] nach drei Monaten abgebrochen“ werden. Der Grund dafür war: Die Zusammenführung mehrfach vorbestrafter Soldaten in einem Sicherungszug hatte „zu einer Gefährdung der Manneszucht und Ordnung in dieser Einheit“ geführt. Die „Disziplin und Autorität der Vorgesetzten konnte schließlich nur noch mit Hilfe von Feldjägern aufrechterhalten werden“. Weitere Aufstellungen von derartigen Einheiten sind nicht bekannt, zudem konnten schwer erziehbare Soldaten seit April 1965 kurzfristig aus dem Wehrdienst entlassen werden. Wie steht es heute um Erziehung in der Bundeswehr? Würden die Soldatinnen und Soldaten „We don‘t need no education“ aus Protest gegen den Erziehungsauftrag ihrer Vorgesetzten singen? Wahrscheinlich nicht. Die Forderungen nach „Mut zur Erziehung“ oder einem Mentalitätswechsel bewirkten jedenfalls keinen größeren Aufschrei. Ganz im Gegenteil: Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr wissen, dass ihr Beruf, wie kaum ein anderer, Auswirkungen auf ihre Persönlichkeitsentwicklung hat. Diese Veränderungen sind manchmal nicht gewollt, wie beispielsweise bei den Folgen einer Posttraumatischen Stressbelastung. Oftmals sind sie aber positiv, gerade was die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung betrifft. Empirische Untersuchungsergebnisse belegen, dass viele Soldatinnen und Soldaten sich nach einem Auslandseinsatz gereifter fühlen. Besonders eindrucksvoll sind die Erkenntnisse aus den Befragungen des 22. ISAFInternational Security Assistance Force-Einsatzkontingents. Selbst Soldaten mit Gefechtserfahrungen stellen positive Veränderungen an sich fest. Aus Befragungen wissen wir zudem, dass viele Freiwillig Wehrdienstleistende unzufrieden sind. Sie sehen die Chancen, sich persönlich durch den Dienst weiterzuentwickeln und wünschen sich dafür mehr Gelegenheit im Dienstalltag oder, wie wir sagen könnten, mehr Erziehung. Der Theologe Christian Göbel argumentiert sogar, dass der Dienst als Soldat mit seinen Sinnangeboten zu hoher Zufriedenheit, ja sogar zu Glück führen könnte. Wenn Vorgesetzte richtig erzögen, wäre die Bundeswehr sogar ein Glücksgarant. Wissen Vorgesetzte um diese erzieherische Verantwortung? Hier sind Zweifel angebracht. Vielen Offizieren und Unteroffizieren ist nicht klar, was Erziehung von ihnen verlangt. So äußerte einmal ein Divisionskommandeur während einer Tagung der Evangelischen Militärseelsorge auf die Frage, ob er erziehe: „Ja, auch ich nehme ab und zu einen Bataillonskommandeur an die Seite und sage ihm ein paar deutliche Worte.“ Damit mag er zwar eine Verhaltensänderung erreichen; mit dem ursprünglichen Erziehungsverständnis der Gründungsväter der Bundeswehr hätte eine solche Maßregelung allerdings nichts gemein. In Führung und Ausbildung scheinen heute ganz andere Ziele im Vordergrund zu stehen als die Erziehung. Die Einhaltung von Vorschriften und Erlassen sowie die effiziente Nutzung verfügbarer Ausbildungszeit sind wichtiger als das Entwicklungspotenzial von Soldatinnen und Soldaten. Die Forderung der Inneren Führung, der Mensch stehe im Mittelpunkt, scheitert kläglich an der Realität in den Streitkräften. Überhaupt scheinen die Voraussetzungen für eine gelungene soldatische Erziehung so ungünstig zu sein wie nie zuvor. Weite Teile des Dienstes in der Bundeswehr sind durch Vorschriften und Erlasse bis ins Detail geregelt. Sie gewähren kaum Spielraum für individuelle Lösungen, die der Persönlichkeitsentwicklung Einzelner dienen. Hinzu kommt: Wichtige Bereiche der Gestaltung des militärischen Dienstes liegen in der Verfügungsgewalt der zivilen Verwaltung. Diese fühlt sich den militärischen Erziehungszielen nicht immer verpflichtet. Das war im Übrigen bereits zu Beginn der 1950er Jahre der Fall. Der Leiter der zivilen Verwaltung, Ernst Wirmer, stand Baudissins Überlegungen zur Erziehung skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, wie Kai Uwe Bormann in seinem Buch zeigen kann. Fraglich ist zudem, ob der Appell der Inneren Führung an die Bereitschaft und Befähigung zur Selbsterziehung heute auf Resonanz stößt. Viele sehen die Innere Führung als eine Vorschrift zur Menschenführung. Sie sei allenfalls für junge Unteroffiziere und Offiziere relevant, weil diese noch über wenig Führungserfahrung verfügten. Dass die Innere Führung Forderungen an die Persönlichkeitsentwicklung aller Soldatinnen und Soldaten unabhängig vom Dienstgrad stellt und dabei offen und ehrlich darauf hinweist, dass dies eine harte Arbeit an sich selbst ist, weiß heute kaum jemand. Stattdessen erfreut sich der Slogan „Isso“ als die kürzeste Begründung in der Bundeswehr großer Beliebtheit. Er steht für das einvernehmliche Eingeständnis, dass die „Erlebnistherapie“ nicht funktioniert und sich keiner ändern muss. Kai Uwe Bormanns Studie über die Aufbauphase der Bundeswehr zeigt deutlich, dass Erziehung als ein zentrales Element von Führungskultur und Selbstverständnis gedacht war. Dieser pädagogische Elan ist trotz einer neuen Regelung zur Persönlichkeitsbildung weithin verlorengegangen. Voraussetzung für einen neuen Mut zur Erziehung wäre, sich Klarheit über den Erziehungsbegriff zu verschaffen. Die Gründungsväter der Bundeswehr haben sich mit viel Herzblut, Gedankenreichtum und Operationsbereitschaft an diese wichtige Aufgabe gemacht. Mit ihren Ideen waren sie damals ihrer Zeit weit voraus. Heute ist die Bundeswehr davon Lichtjahre entfernt. Das war „Angelesen„, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch “Erziehung in der Bundeswehr“ von Kai Uwe Bormann.

von Dr. Uwe Hartmann

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