Ein Dach über Europa
Ein Dach über Europa
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Herzlich Willkommen zu Angelesen, das Buchjournal des ZMSBW. Heute zu Friederike Hartung, „Ein Dach über Europa. Politische Symbolik und militärische Relevanz der deutschen bodengebundenen Luftverteidigung 1990 bis 2014“. Erschienen im De Gruyter Oldenburg Verlag 2022 vor wenigen Wochen. Unmittelbar nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine reiste eine Delegation des Deutschen Bundestages nach Israel. Der Grund für diese Reise überraschte. Die Abgeordneten wollten sich über die israelischen Luftverteidigungssysteme informieren. Damit war klar, der Schutz Deutschlands gegen Angriffe mit Raketen musste dringend verbessert werden. Der russische Präsident Putin zielte mit seiner Drohung auch atomare Waffen einzusetzen, genau in diese Sicherheitslücke. Tatsächlich können in Kaliningrad stationierte Iskander Raketen die deutsche Hauptstadt Berlin in nur wenigen Minuten treffen. Die Historikerin Friederike Hartung geht der Frage nach, warum es so schlecht um die bodengebundene Luftverteidigungsfähigkeiten der Bundeswehr bestellt ist. Gleich zu Beginn liefert sie Zahlen, die den dramatischen Schrumpfungsprozess verdeutlichen. Während des Ost-West-Konflikts dienten rund 18.600 Soldaten in sechs Flugabwehr-Raketenregimentern der deutschen Luftwaffe. Diese waren über ganz Westdeutschland verteilt. Heute gibt es nur noch ein Geschwader in Husum mit 2300 Dienstposten. Bereits dessen Einsatz in der Türkei in den Jahren 2013 bis 2015 bestätigte, dass diese Kräfte bei weitem nicht ausreichen, weder für die Luftverteidigung Deutschlands, noch von ihren Bündnispartnern. Wie war es zu diesem Abbau von Fähigkeiten gekommen und was bedeutete dies für die Landes- und Bündnisverteidigung? Und vor allem, was ist zu tun, um den künftigen Bedrohungen, vor allem durch ballistische Raketen, gerecht zu werden? Auf diese Fragen gibt die Autorin Antworten, die auch ein Licht werfen auf Deutschlands Militärpolitik in der NATO und die Sachzwänge der jahrzehntelangen Unterfinanzierung der Bundeswehr. Im Zuge der Zeitenwende muss es darum gehen, verlorene Schlagkraft auch in der botengebundenen Luftverteidigung schnell wieder zu gewinnen. Die Geschichte der Abwehr ballistischer Raketen beginnt in den USAUnited States of America. Bereits der Sputnik-Schock von 1957 offenbarte, dass die USAUnited States of America nicht unverwundbar waren. Früher kannten USUnited States-amerikanische Strategen die sicherheitspolitischen Konsequenzen. Die außenpolitische Handlungsfreiheit ihres Präsidenten war im Kalten Krieg mit der Sowjetunion deutlich eingeschränkt. USUnited States-Präsident Ronald Reagan wollte diese Abhängigkeiten beenden. Anfang der 1980er Jahre leitete er mit seiner Vision eine neue Ära in der Geschichte der Raketenabwehr ein. Die als Star Wars benannte Strategic Defense Initiative verfolgte den Aufbau eines mehrschichtigen und primär weltraumbasierten Raketenabwehrsystems. Die USAUnited States of America wollten sich nicht mehr auf die Abschreckung durch die Zweitschlagkapazität verlassen, wenn das Land in der Lage wäre vom Territorium der Sowjetunion abgefeuerte Interkontinentalraketen abzufangen, bevor sie USUnited States-Territorium erreichen würden. Damals zeichnete sich allerdings früh ab, dass Präsident Reagan technologisch seiner Zeit weit voraus war. Bereits 1993 wurde seine Initiative für beendet erklärt. Doch die Idee war geboren und Reagans Nachfolger mussten sich mit der Frage beschäftigen, ob sie eine nationale Raketenabwehr aufbauen wollten. Schließlich war es Präsident George Walker Bush, der diesen Schritt ging. Dazu kündigte er Ende 2001 den seit 1972 bestehenden Antiballistikmissilvertrag mit Russland als dem nachfolgerischen Staat der untergegangenen Sowjetunion auf. Dieser Vertrag verbot die landesweite und flächendeckende Stationierung von Abwehrsystemen. Erlaubt war nur der konzentrierte Schutz wichtiger Objekte, wie beispielsweise kritischer Infrastruktur. Erlaubt war nur der konzentrierte Schutz wichtiger Objekte, wie beispielsweise kritischer Infrastruktur. Präsident Putin drohte daraufhin mit Gegenmaßnahmen und auch Deutschland kritisierte die Kündigung des ABM-Vertrages. Aus deutscher Sicht sorgte die gegenseitige Abschreckung mit der Befähigung zum Zweitschlag für eine stabile Sicherheit in Europa. Gleichwohl gab es wie schon in den 1980er Jahren Stimmen, vor allem aus der deutschen Industrie, die am Aufbau eines Raketenabwehrsystems mit dabei sein wollten. Sie warnten davor, den Anschluss an USUnited States-amerikanische Spitzentechnologie zu verpassen. Allerdings war den NATO-Verbündeten klar, dass die USAUnited States of America auch ohne ihre Zustimmung oder Beteiligung eine nationale Raketenabwehr aufbauen würden. Sie benötigten allerdings die Zustimmung ausgewählter NATO-Verbündeter, um auf deren Territorium die Systemkomponenten aufzubauen. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges blieb die Bedrohung durch Kurz- und Mittelstreckenraketen eine real existierende Gefahr für Europa. Der zweite Irakkrieg hatte bereits verdeutlicht, dass eigene im Ausland stationierte Truppen durch ballistische Raketen gefährdet waren. Die zunehmende Proliferation von Raketentechnologie ließ vermuten, dass diese Gefahren weiter zunehmen würden. USUnited States-Strategen beurteilten sogenannte Schurkenstaaten wie den Iran oder Nordkorea als besonders gefährlich, weil ihre politischen Führer nicht rational handelten und man mit ihnen auch nicht verhandeln könnte. Trägersysteme der Armeen dieser Staaten konnten die westlichen Demokratien genauso treffen wie in Übersee stationierte USUnited States- Die Bündnispartner der NATO verabschiedeten schließlich 2005 das Active-Layered-Theatre-Ballistic-Missile-Defence-Program. Dessen Ziel war es, Truppen im Einsatz gegen Angriffe mit ballistischen Flugkörpern mit einer Reichweite von bis zu 3000 Kilometern zu schützen. Fünf Jahre später einigten sich die Staats- und Regierungschefs der NATO darauf, die Abwehr von Flugkörperangriffen zum Kernelement der kollektiven Verteidigung zu machen. Eine mehrschichtige aus unterschiedlichen Systemen bestehende Raketenabwehrarchitektur sollte künftig das gesamte Bündnisgebiet gegen ballistische Flugkörper aller Reichweiten schützen. Unmissverständlich stellten sie klar, dass ein derartiger Angriff einen Bündnisfall gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages auslösen würde. Präsident Putin dagegen glaubte nicht an einen defensiven Charakter dieses Raketenabwehrprogramms. Er befürchtete, die NATO wollte die Voraussetzung dafür schaffen, einen atomaren Erstschlag gegen Russland auszuführen, ohne einem russischen Vergeltungsschlag ausgesetzt zu sein. Zudem erkannte Putin, dass Russlands Status als Großmacht damit in Frage gestellt wäre. Sein Gewicht in den internationalen Beziehungen würde genauso leiden, wie seine außenpolitische Handlungsfreiheit. Mit seiner heftigen Kritik am Raketenabwehrprogramm verfolgte der langjährige russische Präsident zwei Ziele. Zum einen wollte er den Zusammenhalt der NATO untergraben. Mit Deutschland gab es einen wichtigen Verbündeten, der seine Zustimmung zur NATO-Raketenabwehr an die Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen band. Zum anderen konnte er die eigene Bevölkerung gegen die NATO aufbringen und seine eigene Macht innenpolitisch festigen. In diesem Zusammenhang weist Friederike Hartung darauf hin, dass Putins harsche Rhetorik unberücksichtigt ließ, inwieweit die Abfangraketen, die in Polen stationiert werden sollten, die russischen Fähigkeiten zur Abschreckung tatsächlich einschränkten. Von den theoretischen Flugbahnen russischer Raketenangriffe auf die USAUnited States of America führten nur wenige über Europa und das russische Militär verfügte über hochentwickelte Raketentechnologien wie Mehrfachsprengköpfe, Täuschkörper und einen neuen manövrierfähigen Gefechtskopf. Die Autorin schlussfolgert daraus, nicht der Aufbau des Raketenabwehrsystems an sich war das Problem, sondern die Stationierung von militärischen Systemkomponenten der USAUnited States of America oder der NATO in unmittelbarer Nachbarschaft. Um Russland als Partner zu behalten, bot USUnited States-Präsident Barack Obama die Mitwirkung an dem Projekt an. Dies war ganz im Sinne Deutschlands. Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Kanzlerin Angela Merkel hatten sich dafür stark gemacht. Die Autorin kann allerdings nachweisen, dass die USAUnited States of America zu keinem Zeitpunkt eine Beteiligung Russlands als ein gleichwertiger Partner wollte. Mehr als ein politischer Dialog war nicht beabsichtigt. Ein gemeinsam mit Russland betriebenes Raketenabwehrsystem war keine Option. 2016 verkündeten die NATO-Partner die anfängliche Einsatzbereitschaft der NATO-Raketenabwehr. Russland, das 2014 die Krim annektiert hatte, war zu diesem Zeitpunkt schon lange kein Partner mehr. Der Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Europa bildet ein andauerndes Streitthema zwischen Russland und der NATO. Putin zieht daraus Konsequenzen, welche die sicherheitspolitische Stabilität untergraben. Er forciert die Entwicklung von Hyperschallwaffen, die von derzeit existierenden Abwehrsystemen nicht abgefangen werden können. Verträge wie beispielsweise den INFIntermediate Range Nuclear Forces-Vertrag, der in den 1980er Jahren zum Abbau aller Mittelstreckenraketen geführt hatte, kündigte er. Und er stationierte Kurzstreckenraketen an der NATO-Ostgrenze. Damit entsteht eine neue Bedrohung ganz Europas durch russische Raketen. Mit ihrem Einsatz hat Putin seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine mehrfach gedroht. Vor dem Hintergrund dieser zugespitzten Sicherheitslage wirft die Autorin einen Blick auf Deutschlands Militärpolitik sowie auf die Fähigkeiten der Bundeswehr zur Luftverteidigung. Während des Kalten Krieges befand sich ein Großteil der integrierten NATO- Luftverteidigung in Westdeutschland. Ab 1990 schien dies nicht mehr erforderlich. Deutschland war nun von Freunden umgeben. Die Bedrohung durch angreifende Kampfflugzeuge war weggefallen. Die Bundesregierung sah gerade auch in der bodengebundenen Luftverteidigung die Möglichkeit zu sparen, um den Staatshaushalt zu entlasten. Daher wurden ältere Flugabwehrraketen vom Typ Hawk und Roland ersatzlos abgeschafft. Selbst die kurz zuvor eingeführten Patriot-Systeme wurden massiv reduziert und später teilweise nicht mehr modernisiert. In der NATO verfolgte Deutschland eine durchaus konfliktträchtige Militärpolitik. Die Bundesregierung wollten Russland als Partner aufbauen, statt sich durch militärische Abschreckungen vor dessen immer noch großen militärischen Fähigkeiten zu schützen. Damit geriet Deutschland in einen Konflikt mit den USAUnited States of America und zunehmend auch mit den mittelosteuropäischen Staaten. Diese fühlen sich weiterhin durch Russland bedroht und waren bereit, Anlagen für die Flugkörperabwehr auf ihrem Territorium zu stationieren. Den Raketenabwehrplänen der NATO stimmte Deutschland erst zu, als die USAUnited States of America unter Präsident Obama sich verpflichteten, ihre Fähigkeiten in die NATO zu integrieren und Russland zu beteiligen. Die Autorin zeigt auf, dass die deutsche Russlandpolitik mit dazu beitrug, den Aufbau der NATO-Raketenabwehr zu verzögern. Gleichzeitig waren die deutschen Fähigkeiten für deren Aufbau unverzichtbar. Im Jahr 2012 verfügten allein Deutschland, die USAUnited States of America und die Niederlande über Patriotsysteme, die in der Lage waren, ballistische Raketen sowie Marschflugkörper abzuwehren. So war es nicht verwunderlich, dass deutsche Kräfte 2013 in die Türkei verlegten, um diesen Bündnispartner vor möglichen Bedrohungen, die aus dem Bürgerkrieg in Syrien resultierten, zu schützen. Wenige Wochen nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine verlegten deutsche Flugabwehr-Raketenkräfte mit dem Waffensystem Patriot in die Slowakei. Soldatinnen und Soldaten der Flugabwehr-Raketengruppe 61 befinden sich mit ihrem leichten Flugabwehrsystem Ozelot in Litauen. Das einzig verbliebene Flugabwehrgeschwader der Bundeswehr verfügt allerdings nicht über eine lange Durchhaltefähigkeit. Bereits der rund dreijährige Einsatz in der Türkei überlastete Personal und Material. Zudem gab es nur eine begrenzte Anzahl an Flugkörpern. Die Regeneration danach benötigte mehrere Jahre. Damit stellte sich die Frage, wie Deutschland künftig die Abwehr ballistischer Raketen sowohl zum eigenen Schutze als auch von Bündnispartnern sicherstellen will. Fassen wir zusammen. Der Schutz des eigenen Staatsteritoriums und seiner Bevölkerung ist unverzichtbar, um die politische Handlungsfreiheit der jeweiligen Regierung zu erhalten. Denn Raketen in der Hand eines gegnerischen Staates sind immer auch ein Mittel, um politisch Druck auszuüben und Menschen einzuschüchtern. Russland führt uns dies tagtäglich vor Augen. Technologisch steckt hinter Raketenabwehrplänen viel Optimismus. Auch wenn der Begriff Raketenabwehrschirm es nahelegt, ein 100-prozentiger Schutz ist nicht möglich, wie das Beispiel Israel zeigt. Eine einzige Rakete, die nicht abgefangen werden kann, vernichtet ihr Ziel. Mit seiner russlandfreundlichen Militärpolitik und seiner Verzögerungstaktik bei den Plänen zum Aufbau einer NATO-Raketenabwehr hat Deutschland viel Kredit bei seinen Verbündeten verspielt. Es kommt jetzt darauf an, Schnellfähigkeiten sowohl für die Landes- als auch für die Bündnisverteidigung zu schaffen. Beschaffungsprozesse sind allerdings äußerst komplex. Erst recht, wenn es um multinationale Rüstungsvorhaben geht. Unterschiedliche Bedrohungsanalysen, Fragen des Technologietransfers, des Geheimschutzes und der Exportpolitik sorgen genauso für Friktion wie die Regelungen zur Finanzierung und Kostensteigerungen. Ein starker politischer Wille ist von Nöten, um solche Großprojekte zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Planungen unter der Bedingung zeitgerechter Lieferung von Großsystemen sind auf Sand gebaut. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass dies alles auch Auswirkungen auf das Vertrauen von Soldatinnen und Soldaten in die Politik und damit auch auf deren Einsatzmotivation hat. Das Buch „Ein Dach über Europa“ zeigt auf, welche Fehler die Verantwortlichen in Politik, Militär und Rüstungsindustrie künftig vermeiden sollten, um die Fähigkeiten zur bodengebundenen Luftverteidigung schnell zu verbessern. Politische Symbolik reicht künftig nicht mehr aus. Die Zeitenwende fordert militärische Relevanz, also kriegstaugliche Luftverteidigungssysteme. Das war eine neue Folge von „Angelesen“, das Buchjournal des ZMSBW. Heute zu Friederike Hartung „Ein Dach über Europa“. Text Uwe Hartmann, gelesen von Heiner Möllers.