Der vergebliche Krieg-Transkript
Der vergebliche Krieg-Transkript
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Herzlich willkommen zu „Angelesen“ dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir Ihnen das Werk des Historikers und Journalisten André Uzulis zur Verfügung – nach Aussage des Autors „die erste konzise Einzeldarstellung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan.“
In den 1990er Jahren begann der Umbau der Bundeswehr. Aus der scheinbar obsoleten Streitmacht zur Landesverteidigung wurde die Armee im Einsatz. Von der deutschen Öffentlichkeit wurde sie seit dessen Beginn im Dezember 2001 in erster Linie im Zusammenhang mit dem Einsatz in Afghanistan wahrgenommen, der sich zum umfang- und verlustreichsten Auslandseinsatz der Bundeswehr entwickelte, bevor er nach fast 20 Jahren im September 2021 zu Ende ging.
Seine Aufarbeitung wurde auf mehreren Ebenen eingeleitet: politisch im Deutschen Bundestag, wo sich sowohl ein Untersuchungsausschuss als auch eine Enquete-Kommission noch bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode mit ihm beschäftigen; wissenschaftlich am ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, wo an einem mehrbändigen Werk über den Einsatz gearbeitet wird, dessen Fertigstellung angesichts der Fülle des zu berücksichtigenden Materials allerdings noch Zeit in Anspruch nehmen wird. Allen, die das dickleibige wissenschaftliche Werk nicht abwarten wollen oder nach einer weniger umfangreichen Darstellung suchen, steht das vorliegende Werk des Historikers und Journalisten André Uzulis zur Verfügung – nach Aussage des Autors „die erste konzise Einzeldarstellung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan.“
An den Beginn seiner Darstellung stellt der Autor einen kurzen Abriss der Geschichte Afghanistans seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Ihr hervorstechendes Merkmal ist, dass es keinem der ansässigen Stammesfürsten je gelang, eine starke Zentralgewalt zu etablieren. Die europäischen Mächte wurden im späten 19. Jahrhundert auf Afghanistan aufmerksam. Russland und Großbritannien rivalisierten um die Vorherrschaft in Zentralasien. Großbritannien errichtete eine Garnison in Kabul, die es 1842 angesichts eines Aufstands überstürzt und unter hohen Verlusten aufgeben musste. Theodor Fontane inspirierte das zu der bekannten, hier im vollen Wortlaut abgedruckten Ballade, in der es heißt: „Mit 13000 der Zug begann, einer kam heim aus Afghanistan.“ Mittlerweile weiß man, dass es deutlich mehr als einen Überlebenden gab. Auch erweckt Fontane den falschen Eindruck, es habe sich um 13000 Soldaten gehandelt, was Uzulis richtigstellt. Tatsächlich bestand der Zug überwiegend aus Zivilisten. Es waren etwa 3500 Soldaten, davon die meisten einheimische Hilfstruppen aus Britisch-Indien. Der Vorgang verdeutlicht, dass es keiner europäischen Großmacht gelang, das unwirtliche Land am Hindukusch mit seiner im Guerilla-Krieg geübten Bevölkerung völlig zu unterwerfen und begründete Afghanistans Ruf als „Friedhof der Imperien“. Nachdem es mehrere Kriege geführt hatte um sich die südlichen Landesteile Afghanistans anzueignen, erkannte London 1919 Afghanistan in seinen heutigen Grenzen als Staat an. Die südlichen Landesteile fielen an Britisch-Indien und bilden heute Pakistan.
Die Herrscher Afghanistans bemühten sich in den folgenden Jahrzehnten um eine Politik der Angleichung an den Westen nach dem Muster der Türkei unter Atatürk. „Diese Modernisierungsversuche scheiterten am erbitterten Widerstand paschtunischer Stämme“. Aus demselben Grund scheiterte in den 1970er Jahren der Versuch der Machtübernahme der kommunistischen Partei Afghanistans. Sie wandte sich an den großen Bruder in Moskau um Hilfe, der diese gern gewährte. Schließlich bot sich hier den Sowjets die Gelegenheit, scheinbar ohne große Mühe eines Landes habhaft zu werden, das sich schon die Zaren gern einverleibt hätten. Die sowjetische Invasion von 1979 geriet zum Desaster, nicht zuletzt, weil die USUnited States-Regierung den afghanischen Widerstand großzügig mit modernen Waffensystemen versorgte. Nach zehn Jahren Krieg, der zehntausende Rotarmisten und hunderttausende Afghanen das Leben gekostet hatte, zogen die Sowjets 1989 ab. Das Land versank anschließend im Bürgerkrieg, aus dem die paschtunische Stammesmiliz der Taliban als Sieger hervorging. 1996 errichteten die Taliban ihr islamisches Emirat Afghanistan, das sich zu einer veritablen islamistischen Terrorherrschaft auswuchs. Vermutlich hätten die Taliban kein allzu großes Interesse der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen, hätten sie nicht Osama bin Laden und seine Organisation al-Quaida in Afghanistan beherbergt. Dieser Sprössling einer schwerreichen saudischen Familie war in den 80er Jahren ins Land gekommen um die Sowjets zu bekämpfen. Anders als die Taliban war er in den 90er Jahren entschlossen, den Terror gegen alle vermeintlich Gottlosen aus Afghanistan in die Welt zu tragen. Leider blieb er dabei nicht ohne Erfolg. Am 11. September 2001 gelang al-Quaida der bisher gravierendste terroristische Akt der Geschichte: Rund 3000 Menschen starben bei den Anschlägen in New York und Washington. Die einstürzenden Türme des Welthandelszentrums markierten wenig verheißungsvoll den Auftakt des 21. Jahrhunderts.
Dass es nun den afghanischen Gastgebern des Drahtziehers dieser Terrorakte an den Kragen gehen würde, verstand sich von selbst. Die NATO erklärte erstmals den Bündnisfall. In vielen, nicht nur in den westlichen Ländern waren Mitgefühl und Solidarität mit den USAUnited States of America ausgeprägt. Bundeskanzler Schröder sicherte dem angegriffenen NATO-Partner die „uneingeschränkte Solidarität“ der Bundesrepublik zu und bestand auf einer Beteiligung der Bundeswehr am bevorstehenden Einsatz gegen die Taliban. Aufgegleist wurden deren zwei: einmal die Operation Enduring Freedom (OEFOperation Enduring Freedom), bei der es um die militärische Bekämpfung von al-Quaida und artverwandten Gruppierungen ging. Sie müssen wir hier nicht näher betrachten. Sie spielte sich zu großen Teilen außerhalb Afghanistans und in Afghanistan nur mit marginaler deutscher Beteiligung ab. Zum andern die Mission International Security Assistance Force (ISAFInternational Security Assistance Force), die zunächst nur in Kabul und Umgebung, ab Herbst 2003 auf Wunsch der afghanischen Regierung im ganzen Land “bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit…unterstützen“ und „bis zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen…sicherheitsbezogene Hilfe… leisten“ sollte, wie es Resolution 1510 des UNUnited Nations-Sicherheitsrats vom Oktober 2003 besagte.
Die Leitung beider Missionen übernahmen die USAUnited States of America, traten die Leitung von ISAFInternational Security Assistance Force jedoch 2003 an die NATO ab, da Washingtons Hauptaugenmerk nun der Intervention im Irak galt. Für die Positionierung Deutschlands in Sachen ISAFInternational Security Assistance Force war weniger die Zukunft Afghanistans maßgebend, sondern Erwägungen bezüglich des deutsch-amerikanischen Verhältnisses: „Berlin ging es vor allem darum, sicherheitspolitische Souveränität und Bündnissolidarität zu zeigen, sich als verlässlicher Partner im westlichen Lager zu präsentieren“. Bundesregierung und Koalitionsparteien zeichneten ein äußerst positives Bild von der ISAFInternational Security Assistance Force-Mission und betonten deren zugewandten, konstruktiven Charakter insb. in Abgrenzung von der OEFOperation Enduring Freedom. Das Auftreten der deutschen Soldaten gegenüber den Afghanen sollte freundlich sein, der militärische Charakter der Mission nicht in den Vordergrund gestellt werden. In diesem Sinne bestand Weisung, auf Patrouillen statt des Gefechtshelms Barett zu tragen.
In der Anfangsphase von ISAFInternational Security Assistance Force mochte das angehen. Die Sicherheitslage schien stabil. Die von Oktober bis Dezember 2001 massiv durchgeführte OEFOperation Enduring Freedom hatte den Taliban schwer zugesetzt. Wer noch lebte, war untergetaucht oder ins benachbarte Pakistan geflohen. 2003 starben erstmals Bundeswehrsoldaten durch Feindeinwirkung, als ihre ungepanzerten Fahrzeuge auf Sprengfallen fuhren. Jetzt war keine Rede mehr von Barett statt Helm. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Oberst Bernhard Gertz, sagte seinerzeit dazu in einem Interview, wenn die Sicherheitslage erheblich schlechter werde, müsse man die ISAFInternational Security Assistance Force-Truppe entweder deutlich verstärken oder die Mission beenden. Die Staatengemeinschaft entschied sich schließlich für ersteres.
Auch Deutschland weitete seine Beteiligung an ISAFInternational Security Assistance Force Ende 2003 deutlich aus. Dabei waren wiederum die deutsch-amerikanischen Beziehungen entscheidungsleitend. Washington war verstimmt, weil Bundeskanzler Schröder im Bundestagswahlkampf 2002 die geplante Intervention der USAUnited States of America im Irak heftig kritisiert und lautstark jedwede deutsche Beteiligung daran kategorisch abgelehnt hatte. Zurecht weist Uzulis darauf hin, dass diese Positionierung nicht ganz aufrichtig war. Das, was die USAUnited States of America von der deutschen Bundesregierung erbeten hatten, erhielten sie auch – vor allem Überflugrechte. Zudem hielten sich, wie Jahre später bekannt wurde, noch nach Kriegsbeginn Mitarbeiter des BNDBundesnachrichtendienst im Irak auf und lieferten den Amerikanern Daten für Angriffsziele. Den Wunsch nach Beteiligung deutscher Soldaten an Operationen im Irak hatten die USAUnited States of America nie geäußert. Um Washingtons Verstimmung zu mildern, schien dem wiedergewählten Schröder ein verstärktes Engagement am Hindukusch geeignet.
Deutschland erklärte sich 2003 bereit, das Regionalkommando für ganz Nordafghanistan zu übernehmen. Paschtunen, aus denen sich die Taliban hauptsächlich rekrutieren, gab es in diesem Landesteil kaum. Die Sicherheitslage war im Vergleich mit Zentral- oder Südafghanistan relativ stabil. Ab Herbst 2003 wurde das deutsche Kontingent, das von ursprünglich 1 200 Mann mittlerweile auf 2 500 Mann angewachsen war, wesentlich in Nordafghanistan disloziert, an den Standorten Kunduz, Faizabad und Taloquan. Als organisatorische Grundeinheit der ISAFInternational Security Assistance Force wurde auf Vorschlag der USAUnited States of America das Provincial Reconstruction Team (PRTProvincial Reconstruction Team) eingeführt, eine Organisationszelle, in der „Soldaten und internationale zivile Experten…mit afghanischen Behörden zusammenarbeiten [sollten], um die jeweilige Region zu entwickeln und Sicherheit herzustellen“. Das – allerdings nicht sehr erfolgversprechende – historische Vorbild dafür waren vergleichbare Einheiten, die die USAUnited States of America während des Vietnamkrieges und Frankreich während des Algerienkrieges gebildet hatten. Zentrale Vorgaben, die Einheitlichkeit in der Struktur geschaffen hätten, gab es nicht. Jede truppenstellende Nation konnte ihre PRTs nach Gusto gestalten. In den beiden deutschen PRTs war die zivile Komponente sehr stark ausgeprägt. Schließlich bestritt den deutschen Einsatz in Afghanistan nicht allein die Bundeswehr. Auch das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung waren präsent. Meinungsverschiedenheiten und Kompetenzgerangel, die sich zwischen militärischer und ziviler Seite ergaben, legten sich mit der Zeit. Das größere Problem war der Mangel an übergeordneter Strategie: “Die Bundesregierung…hatte nicht einmal für die Bundeswehr längerfristige Ziele für den Einsatz, geschweige denn für das gesamte deutsche Engagement“.
Die vom Bundestag jährlich festgelegte Kontingentstärke wuchs weiter. 2008 lag sie bei 3500 Mann. Das Einsatzgebiet der Bundeswehr umfasste annähernd 65000 km2. In diesem Raum reichte auch das größere Kontingent kaum für mehr als für Eigensicherung, zumal sich die Sicherheitslage mehr und mehr eintrübte. Die Taliban hatten sich in Pakistan neu formiert und ihre Aktionsfähigkeit wiedererlangt. Im Stationierungsraum der Bundeswehr hat sich von 2007 bis 2010 die Zahl der Vorkommnisse, insb. Beschuss der Feldlager mit ungelenkten Waffensystemen, annähernd verzehnfacht. Weiter südlich war die Lage noch angespannter. Im politischen Berlin verschloss man vor dieser unerfreulichen Entwicklung so lange wie möglich die Augen und stellte den Einsatz gegenüber der Öffentlichkeit weiter als Wiederaufbaueinsatz dar. Uzulis bezeichnet dies mit dem harten, doch keineswegs unberechtigten Begriff „Realitätsverweigerung“.
ISAFInternational Security Assistance Force reagierte mit einer Counterinsurgency-Strategie. Die Truppe sollte massiv aufgestockt und so zu effizienter Aufstandsbekämpfung befähigt werden. Die Truppenstärke wurde bis 2010 auf 140000 Mann angehoben. Den Löwenanteil stellten die USUnited States-Streitkräfte, die nun auch Verbände im Bereich des Regionalkommandos Nord stationierten. Das deutsche Kontingent erreichte 2010 seinen größten Umfang mit 5350 Mann und wurde erstmals auch mit schweren Waffen wie Panzerhaubitzen und Schützenpanzern ausgestattet, deren Feuerkraft im Gefecht mit den Taliban den entscheidenden Unterschied ausmachen konnte. Hätten etwa am 2. April 2010 beim Karfreitagsgefecht gegen eine erdrückende feindliche Übermacht keine Schützenpanzer Marder sowie amerikanische Black-Hawk-Hubschrauber zur Verfügung gestanden, hätte es gewiss erheblich mehr als die drei deutschen Gefallenen gegeben, die an diesem Tag zu beklagen waren. Es ist dem Autor anzurechnen, dass er im Anhang des vorliegenden Werks ihnen und allen 35 deutschen Gefallenen, die in der ISAFInternational Security Assistance Force-Mission ihr Leben ließen, die Ehre der namentlichen Nennung erweist.
Die Counterinsurgency-Strategie trug durchaus Früchte. Die Sicherheitslage im Land verbesserte sich bis 2011 spürbar. Dieser Stabilisierung Dauerhaftigkeit zu verleihen hätte indes vorausgesetzt, den sehr hohen Kräfteansatz der Mission noch jahrelang beizubehalten. Dazu waren die truppenstellenden Staaten nicht bereit. Mancher erblickt darin die wesentliche Ursache für den Misserfolg des Afghanistaneinsatzes. General Egon Ramms, seinerzeit als Kommandeur des NATO-Allied Joint Force Command für den Einsatz zuständig, fasste das in die prosaische Formulierung: „Wir haben uns zu schnell vom Acker gemacht“.
Tatsächlich hatten sich die Truppensteller auf eine schrittweise Reduzierung der Truppenstärke und Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Armee und Polizei verständigt, deren Angehörige im Rahmen der ISAFInternational Security Assistance Force-Mission ausgebildet wurden. Die ISAFInternational Security Assistance Force-Mission endete mit dem Jahr 2014. Die Folgemission Resolute Support (RS) war erheblich kleiner. Das deutsche Kontingent war auf den Standort Masar-e Scharif konzentriert und bestand seit 2018 nur noch aus 1 300 Mann. Gefallene hatte es erfreulicherweise seit 2013 nicht mehr zu verzeichnen.
Für die afghanische Armee galt das nicht. Ihre Verluste waren hoch. Viele ihrer Soldaten desertierten. Die Kampfmoral war niedrig und sank weiter, als die USAUnited States of America 2018 offiziell Verhandlungen mit den Taliban über einen beschleunigten Abzug aus Afghanistan aufnahmen. USUnited States-Präsident Obama hatte der afghanischen Regierung 2010 noch militärische und finanzielle Hilfe bis 2024 zugesagt. Sein Nachfolger Trump wollte sich jeder Verpflichtung bezüglich Afghanistans so rasch wie möglich entledigen. Die afghanische Regierung wurde auf Wunsch der Taliban an den Gesprächen überhaupt nicht beteiligt. Das war fraglos ein Affront, entsprach aber den realen Machtverhältnissen in Afghanistan, das mittlerweile größtenteils wieder von den Taliban kontrolliert wurde. Die weitere Entwicklung der inneren Verhältnisse in Afghanistan interessierte die Trump-Administration nicht. Ihr kam es nur darauf an, dass von afghanischem Boden nach Abzug der Interventionstruppen keine Bedrohung für die USAUnited States of America und deren Verbündete ausgehen werde. Dies sicherten die Taliban zu. Das daraufhin in Doha geschlossene Abkommen sah den Abzug der USUnited States-Truppen bis 1. Mai 2021 vor. Nachdem Joe Biden im Januar 2021 Trump im Weißen Haus abgelöst hatte, wurde der Abzugstermin vom 1. Mai auf den 11. September 2021 verschoben – den 20. Jahrestag der Terrorangriffe, die den Afghanistaneinsatz ausgelöst hatten.
Die letzten Soldaten des deutschen Kontingents der Mission RS verließen das Land am 29. Juni 2021. Im August nahmen die Taliban Kabul ein. In seinem Fazit schreibt Uzulis: „Der Afghanistan-Einsatz der internationalen Gemeinschaft hatte zu keinem Zeitpunkt Aussicht auf Erfolg“. Als eine wesentliche Ursache dessen macht er den Umstand aus, dass der Westen mit den falschen Kräften zusammengearbeitet habe, nämlich im Wesentlichen mit “liberalen Diaspora-Eliten“, die in der Bevölkerung Afghanistans kaum Rückhalt hatten. Daher seien im Westen „die Potentiale einer Demokratisierung“ weit überschätzt worden. Das ist nicht falsch, geht aber wohl doch an der Sache vorbei. Die angeblich erstrebte Demokratisierung der afghanischen Gesellschaft war stets nur das Narrativ, mit dem die Politik dem deutschen Publikum den Einsatz schmackhaft zu machen suchte, wenn auch weitgehend erfolglos, sprachen sich doch in einer repräsentativen Umfrage schon 2009 fast 70% der Befragten für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan aus. In den diversen Resolutionen des UNUnited Nations-Sicherheitsrats, die die völkerrechtliche Grundlage des Einsatzes bildeten, war von Demokratisierung keine Rede. Ziel war ausschließlich, Sicherheit im Land zu gewährleisten um der afghanischen Regierung ihre politische Arbeit zu ermöglichen. Dass diese Regierung selbst mehr Probleme schaffte als löste, dass ihr Modus Operandi auf Korruption, Vetternwirtschaft und Kleptokratie basierte, gehört sicher zu den Faktoren, die den Einsatz politisch fragwürdig machten.
Unter welchen Umständen hätte man wenigstens das Ziel der Schaffung von Sicherheit erreichen können, wenn schon keine Demokratisierung? Es scheint, die zentrale Voraussetzung dafür wäre die rückhaltlose Unterstützung von ISAFInternational Security Assistance Force durch die politische und militärische Führung Pakistans gewesen. Die gab es zu keinem Zeitpunkt. Solange die Taliban, für ISAFInternational Security Assistance Force unangreifbar, nach Belieben das weiträumige Nachbarland als Vorbereitungsraum nutzen konnten, war eine dauerhafte Stabilisierung der Sicherheitslage in Afghanistan mit vertretbarem Aufwand nicht erreichbar.
Warum, so wäre abschließend zu fragen, hielt man trotzdem so lange an der Weiterführung des Einsatzes fest? Uzulis zitiert den SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands-Politiker Hans-Ulrich Klose, der 2010 sagte, wenn man in Afghanistan scheitere, „würde das mit Sicherheit zu einer neuen Welle terroristischer Anschläge führen“. Es spricht viel für die Annahme, dass die Mehrheit im politischen Betrieb Kloses Einschätzung teilte. Somit muss man wohl sagen, dass die Bedeutung der Taliban für die weltweite Sicherheitslage weit überschätzt wurde. Mittlerweile herrschen sie schon wieder seit fast drei Jahren am Hindukusch. Von einer Zunahme weltweiten Terrors, die sich ihnen als Urhebern zurechnen ließe, wurde seither nichts bemerkt. Am Ende seines Werkes zitiert Uzulis den ehemaligen Bundestagsabgeordneten der Partei Bündnis ‘90/Die Grünen, Winfried Nachtwei, der in seiner Partei als Fachmann für Sicherheitspolitik gilt. Er meinte kurz nach dem Abzug aus Afghanistan, Ursache des Scheiterns sei “ein kollektives Führungsversagen in vielen Hauptstädten“ gewesen. Sollte sich diese Anschauung allgemein durchsetzen, wäre das wahrscheinlich kein gutes Vorzeichen für die Aufarbeitung des Gesamtthemas. „Kollektiv“ klingt doch sehr nach Verantwortungsdiffusion. Wenn alle irgendwie schuld waren, war es am Ende keiner. Man wird abzuwarten haben, zu welchen Ergebnissen die vom Deutschen Bundestag beauftragten Gremien in ihrer Aufarbeitungstätigkeit kommen werden. Fest steht, dass die Leidtragenden des Scheiterns neben den ISAFInternational Security Assistance Force-Soldaten, die Leben oder Gesundheit eingebüßt haben, die Menschen in Afghanistan sind. Das Land wird, um es mit einem Wort des Diplomaten Michael Steiner zu sagen, noch lange eine “Interventionsruine“ bleiben. Das war „Angelesen“ das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Werk von André Uzulis “die erste konzise Einzeldarstellung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan“.
Text: Christoph Kuhl
Gelesen von: Christoph Jan Longen