Der Flakon-Transkript

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Herzlich willkommen zu „Angelesen! Dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir den historischen Roman „Der Flakon“ von Hans Pleschinski vor. Er erschien im Jahr 2023 im C.H. Beck-Verlag.
I.    
An der Armee war jahrelang gespart worden, der verantwortliche Minister wollte den mächtigen Nachbarn durch Aufrüstung weder verprellen noch herausfordern. Zudem setzte er auf Bündnisse mit mächtigen Freunden und hoffte, dass diese das Land im Ernstfall ja schon schützen würden. Schließlich aber wurde aus dem Nachbarn tatsächlich ein Feind, der das Land überraschend angriff/überfiel. Denn dieser wähnte sich seinerseits durch die Bündnisse bedroht
Dieses Szenario klingt erschreckend, beklemmend und gegenwärtig-aktuell, ist es aber im vorliegenden Fall gar nicht. Denn die Geschichte, die Hans Pleschinski in seinem Roman „Der Flakon“ erzählt, spielt im Jahre 1756. Bei dem Land, von dem die Rede war, handelte es sich um das Kurfürstentum Sachsen. Die Bündnispartner waren Frankreich, Österreich, Russland und Schweden.  Der Angreifer war Friedrich II., König in Preußen, auch Friedrich der Große genannt. Dieser hatte im sich im Ersten Schlesischen Krieg des österreichischen Schlesiens gewaltsam bemächtigt, es im Zweiten Schlesischen Krieg erfolgreich verteidigt und sah sich nun – 1756 - durch das gegnerische Bündnis bedroht. Daher überschritt er mit seiner Armee bei Jüterbog die sächsische Grenze und brach den Siebenjährigen Krieg in Europa vom Zaum. Pleschinski erzählt das Geschehen folgendermaßen: „Vor sechs Wochen, am 29. August, war der Feind ins Land einmarschiert. Ohne Vorwarnung, ohne Kriegserklärung, was beispiellos in der neuen Zeit war. Ein staatlicher Überfall.  Und abermals ein Krieg Deutscher gegen Deutsche. Ein Bürgerkrieg. Siebzigtausend Preußen, Landeskinder und Söldner, waren in drei Kolonnen in Sachsen eingedrungen. Wie hätten nicht einmal halb so viele sächsische Soldaten ihnen an mehreren Fronten Widerstand leisten sollen?“(S. 8).
Friedrich besetzte das reiche Sachsen, das für seine Kriegführung strategisch sowie wirtschaftlich enorm wichtig war und presste es regelrecht aus. Die sächsische Armee hatte sich in Richtung Festung Königstein zurückgezogen. Nach ihrer Kapitulation wurden die sächsischen Soldaten unter Zwang in die preußische Armee eingegliedert, nicht wenige desertierten daraufhin.
Der verantwortliche, also Leitende Minister hieß Heinrich Reichsgraf Brühl, von Friedrich gehasst und in seinen Schriften nachträglich geschmäht. Brühl floh mitsamt seinem Kurfürsten in das von diesem ebenfalls beherrschte Königreich Polen. Im Lande blieben und der preußischen Besatzung ausgeliefert war die zurückgebliebene Zivilbevölkerung und hier insbesondere die Frauen. Eine Prominente unter ihnen war Brühls Gemahlin, Franziska Reichsgräfin Brühl. Diese Titelheldin des Buches wird als äußerst willensstarke Frau geschildert. Sie will zum einen den umfangreichen Familienbesitz in Dresden schützen. Zugleich aber überlegt sie in einem Prozess des inneren Wandels, was sie als Einzelne, noch dazu als Frau im 18. Jahrhundert, gegen die Besatzung und gegen den Krieg unternehmen kann. Sie hält den preußischen König für den Aggressor und die Wurzel allen Übels. Wäre er weg, oder aber nicht mehr am Leben, so würde alles gut. Als sie hört, dass Friedrich sich mit deutschen Literatur- und Geistesgrößen in Leipzig treffen will, wittert sie ihre Chance. Sie begibt sich, bei allen Problemen des im Buch detailreich geschilderten Verkehrswesens im 18. Jahrhundert, in Begleitung auf die Reise von der sächsischen Hauptstadt Dresden in die Messe- und Verlagsstadt Leipzig. Sie führt ihren Flakon mit sich. Dieser ist aber nicht mit Parfüm gefüllt, sondern mit einem schnell-todbringenden Gift, das sie dem König in Preußen einflößen will. Ob sie diese Tat letztlich selbst ausführt, bleibt offen. 
Möglicherweise hat es tatsächlich ein erfolglose Giftattentat auf Friedrich gegeben. Es ist historisch allerdings lediglich aus einer Quelle belegt und es ist völlig unklar, wer es tatsächlich in Auftrag gegeben oder aber ausgeführt hat. Es wurde in den populären Friedrich-Büchern des 19. Jahrhunderts in Text und in Stichen sowie in Veit Harlans Durchaltefilm „Der große König“, mit Otto Gebühr in der Titelrolle, aus dem Jahre 1942 dargestellt.
II.
Neben der spannenden Handlung ruht die Stärke dieses historischen Romans auf zwei Säulen. Zum einen spielt sie in einem Land, das bei der großen, viel zu lange preußisch dominierten, Geschichts- und vor allen Dingen auch Militärgeschichtsschreibung eher unter „ferner liefen“ rangiert: Nämlich dem im 18. Jahrhundert kulturell und wirtschaftlich reichen Sachsen. Dieses wird ähnlich wie in der DDRDeutsche Demokratische Republik-Fernsehserie „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ dem militärisch erfolgreichen aber eher armen Preußen gegenübergestellt. Pleschinski formuliert daraus die Frage, wohin die Reise in Deutschland wohl gehen wird, wenn das stark militärisch geprägte Preußen die Oberhand gewinnt und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bzw. Deutschland anstatt Österreich dominiert.
Zum anderen entrollt er ein breit gefächertes Sittengemälde der Verhältnisse im Sachsen des 18. Jahrhunderts. Das betrifft die hohen und die niederen Stände gleichermaßen. Es wird Alltagsgeschichte erzählt. Das beginnt bei der Kleidung, setzt sich mit der Nahrung fort und endet noch lange nicht mit den Reise- und Verkehrsmitteln, die natürlich auch die militärische Logistik betrafen. Dazu gehört das Problem, an Poststationen die Pferde zu wechseln bzw. ein Nachtquartier und somit Ruhe für Mensch und Tier zu finden. Denn da es keine „light pollution“ gab, waren die nächtlichen Straßen, die in grauenvollem Zustand waren, tatsächlich stockdunkel und eine Weiterfahrt nicht nur wegen Räubern lebensgefährlich. Fackelläufer wären die einzige Möglichkeit der Beleuchtung gewesen. Die Kutschen, deren Federung stark zu wünschen übrig ließ konnten vom Weg abkommen oder aber ein hölzernes Rad brechen bzw. sich lösen, was zu schweren Verletzungen bei den Insassen führte. Pleschinski führt aus, dass Kopfverletzungen in Kutschen vermutlich die häufigsten Todesursachen bei Reisenden in dieser Zeit waren. Wie langsam Kutschen tatsächlich vorankamen wird an einem nebenher zu Fuß gehenden Wandergesellen dargestelt, der immer wieder das Gefährt einholt bzw. von diesem überholt wird. Letztlich ist er mindestens genauso schnell.
II.
Dass der Krieg im 18. Jahrhundert nicht nur aus Schlachten bestand, sondern dass das Ausmanövrieren und vor allen Dingen die Logistik und insbesondere die Belagerung mindestens genauso wichtig waren, das macht bereits das erste Kapitel eindrucksvoll deutlich. Es spielt auf der eingeschlossenen sächsischen Festung Königstein. Hier wird unter anderem deutlich, wie unterschiedlich die Anforderungen der Feldarmee an die Soldaten, die auch hier aus vielen Ländern kamen,  im Vergleich zu Garnison- oder Festungstruppen waren. Bei Letzteren taten auch Invalide oder Halbinvalide ihren Dienst. Vor der Festung spielen sich Gefechte ab, wobei die katastrophalen hygienischen Verhältnisse im Biwak aber auch im Lazarett ausreichend zur Sprache kommen.
Dass der Krieg auch im 18. Jahrhundert eben nicht nur eine Sache der Soldaten ist, sondern die Zivilbevölkerung in einem besetzten Land mindestens genauso hart traf, wird zum einen an den Schilderungen der Flüchtlingsströme zum anderen aber an der Darstellung des Besatzungsregimes deutlich: „Binnen sechs Wochen hatten die Truppen König Friedrichs II. das Land überrannt. Der gekrönte Eindringling ließ sofort die öffentlichen Kassen Sachsens beschlagnahmen. Er presste Städten Zwangsgelder ab, bevor er deren Ratsherren nach Hause schickte. In Leipzig war die preußische Soldateska sogar während des Gottesdienstes in die Nikolaikirche eingedrungen und hatte die Kollekte geraubt. Und ebenfalls in Leipzig war als Zeichen der preußischen Ordnung ein Galgen aufgerichtet worden. Pleiße-Athen, die erste Messestadt Europas, nun eine Ödnis“ (S. 9). Von bewussten Münzverschlechterungen ist an anderem Ort die Rede ebenso die Rede wie von den verzweifelten Versuchen über die Meißener Porzellanmanufaktur Geld in die klammen Kassen zu spülen: „Der Verkauf konnte die Kriegskasse füllen. Wie, wie man mutmaßte, das Militär mehr als zwei Dritteile der Staatseinkünfte verschlang und wo einer von dreißig Untertanen Soldat war, in Preußen, dort brauchte man jeden Groschen und gierte nach Geldquellen“ (S. 125). 
Hinzu kamen die Kriegsschäden an den Gebäuden und dass zur Zerstörung des Belvedere sowie einer Dresdener Kirche keine Bomber des 20. Jahrhunderts nötig sind, sondern die Vorderlader-Kanonen und -Mörser des 18. Jahrhunderts ebenfalls ausreichten, zeigt das hintere Vorsatzblatt des Buches erschreckend eindrucksvoll.
III.
Das 18. Jahrhundert war ja auch davon gekennzeichnet, dass nun verstärkt deutsch schreibende Autoren und in begrenztem Maße auch Autorinnen auf den Buchmarkt aber auch auf die Bühne drängten. Sie wollten das Theater in Deutschland von dem Image des Jahrmarktes, des Tingeltangels und der Hanswurstiaden befreien. Es sollte gewissermaßen auf eine höhere Stufe gehoben werden, von der später Schiller sprach, als er das Theater „als moralische Anstalt“ bezeichnete. Dazu aber waren Sprach- und Theaterregeln mehr als notwendig. Folgerichtig geben sich die damaligen deutschen Literaturgrößen in dem Buch gewissermaßen die Klinke in die Hand: Gottsched, Gellert, Lessing. Gryphius wird ebenso erwähnt wie der Liederdichter Paul Gerhardt. Die Namen der literarischen und realen Figuren gehen damit Hand in Hand und komplettieren das Bild der geistig-kulturellen Situation im Deutschland des 18. Jahrhunderts: Bräker, v. Tellheim, v. Barnhelm, v. Kleist, v. Marwitz. Ein Johann Sebastian Bach fehlt ebenso wenig wie der Gründer der Herrnhuter Gemeinde Graf Zinzendorf.
Dem gegenüber steht der literarisch sehr interessierte und auch schreibend-praktizierende König in Preußen: Friedrich II. Im Gegensatz zu dem Versuch späterer Jahrhunderte, aus ihm einen „deutschen“ König oder gar einen Vater der „deutschen Einheit“ zu machen, aber interessierte ihn ausschließlich französische Literatur, die deutsche nahm er nur sehr eingeschränkt wahr. Er selbst schrieb und veröffentlichte bevorzugt und fast ausschließlich auf Französisch.
Pleschinski nutzt diesen Gegensatz literarisch-beeindruckend aus, in dem er Friedrichs grundsätzliches Interesse an der deutschen Literatur beschreibt, der sich in Leipzig daher mit deutschen Literaten treffen will.
IV.
Eines der eindrucksvollsten Kapitel spielt in Oschatz. Eine abendliche Wirtshausgesellschaft ereifert sich heftigst über die komplizierten und ach so schlechten Verhältnisse im damaligen Deutschland, über Kleinstaaterei/Föderalismus, das Gerichtswesen sowie vielerlei mehr. Sie stellt stattdessen die vermeintlich so viel besseren Verhältnisse in anderen Ländern insbesondere im zentralistisch beherrschten Frankreich heraus. Dieser allgemeinen Mäkelei und dem Schlechtreden tritt der Jurist Professor Johann Stephan Püttner aus Göttingen entgegen. Er entwickelt nicht nur eine Theorie wie der Aggressor Friedrich II. juristisch gemaßregelt werden könnte, er hebt hervor, dass zwar in Deutschland die Untertanen auch geschröpft, aber eben nicht, wie in Frankreich, ausgeplündert werden. Er prophezeit dort Hungerrevolten und Revolution, da „alles von der Willkür des Königs und des Adels“ abhänge. Er fährt fort: „Deutschland hat Untertanen, ja aber keinen respektlosen Pöbel. Ein jeder kann bei uns sogar seinen Landesherren verklagen. […] Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das weitaus größte Staatswesen in der Mitte Europas, ist hochmodern. Es basiert auf Kompromiss. Nicht immer freudig, aber aus Erfahrung und Vernunft suchen Mächtige und weniger Mächtige […] immer nach einem Ausgleich ihrer Interessen, und es ist der einzige Staat der Welt, […] in dem unterschiedliche, ja konkurrierende Konfessionen und ihre Gläubigen […] koexistieren“ (S. 207f.). 
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation überlebte die französische absolute Monarchie tatsächlich nur um 17 Jahre, 1806 ging es unter. Die von Pleschinski/Püttner hier geäußerte Zurückweisung nicht fundierter Kritik an den Verhältnissen und das Schielen auf vermeintlich bessere Zustände anderswo unter Verkennung der wirklichen eigenen Stärken aber lesen sich verblüffend aktuell und haben nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt.
V.
Hans Pleschinski hat sich gemäß seiner Danksagung (S. 355) von einem Historiker, von einer Fachfrau für Mode und Kleidung sowie von einem Spezialisten für das Verkehrswesen beraten lassen. Dass sich bei einem 360-Seiten-Roman immer mal Fehler einschleichen können ist nicht ungewöhnlich:
Allerdings wurde Friedrichs Jugendfreund Hans Hermann von Katte zwar zum Tode verurteilt und hingerichtet, allerdings mit dem Schwert. Er wurde nicht erschossen, wie im Buch geäußert (S. 123). Dass preußische Husaren einen Kürass, also einen Brustpanzer, trugen (S. 146), wäre sehr ungewöhnlich. Gleiches galt für die Zündhütchen, die ein preußischer Offizier auf die „Pfanne seiner Pistolen“ legte (S. 182). Das deutet auf Perkussionswaffen hin und die kamen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Gebrauch.
Dies schmälert letztlich auch nicht das großartige Gesamtwerk. Gewiss könnte die geneigte Leserschaft die einzelnen historischen Facetten dieses Buches auch aus den Standardwerken der Literatur-, Verkehrs-, Militär-, Alltags- oder der Politischen Geschichte entnehmen. Aber bestimmt nicht in so großer Dichte und in so schöner Sprache einer Gesamthandlung wie in einem Roman.
Das war „Angelesen! Das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum historischen Roman „Der Flakon“ von Hans Pleschinski. Er erschien im Jahr 2023 im C.H. Beck-Verlag.
 

von Harald Fritz Potempa

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