Bundeswehr in Afghanistan-Transkript

Bundeswehr in Afghanistan-Transkript

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Im September 2021 endete nach fast genau 20 Jahren mit dem Einsatz in Afghanistan der umfangreichste Auslandseinsatz, an dem die Bundeswehr bislang beteiligt war. Sein Beginn im Dezember 2001 brachte die gute Nachricht, dass der Herrschaft der radikalislamischen Taliban ein Ende gesetzt wurde. Sie hatten das Land seit 1996 geknechtet und zum sicheren Rückzugsraum für islamistische Terroristen gemacht– insbesondere für Osama bin Laden, den Drahtzieher der Anschläge, die am 11. September 2001 in den USAUnited States of America Tausende Opfer gefordert hatten. Mit der Fortführung des Einsatzes war die Absicht verbunden, die Rückkehr der Taliban an die Macht zu verhindern und Afghanistan einen Pfad zur Entwicklung eines demokratischen politischen Systems und einer pluralistischen Gesellschaftsordnung zu öffnen. Die Schwierigkeiten, die sich auf dem Weg zur Verwirklichung dieser hehren Ziele bald zeigten, wurden Gegenstand eines umfangreichen Schrifttums in Wissenschaft und sicherheitspolitischer Community. Die vorliegende Studie ist die Magisterarbeit der Bonner Politikwissenschaftlerin Tahmina Sadat Hadjer. Sie entstand 2009. Der Einsatz lief zu dieser Zeit zwar schon jahrelang. Er hatte auch bereits deutsche Soldaten das Leben gekostet. Dennoch war das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an der Lage in Afghanistan insgesamt nicht besonders groß. Die Ereignisse, die größeres Interesse der Öffentlichkeit auf den Einsatz lenken sollten – Oberst Kleins Etscheidung, entführte Tanklastwagen zu bombardineren und das Karfreitagsgefecht – lagen noch in der Zukunft. Als sie entstand, schien diese Arbeit, die sich mit der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Afghanistan-Einsatz befasst, im Wesentlichen nur für Spezialisten von Interesse. Heute lässt sich die Arbeit neu lesen unter der Fragestellung, was sich für etwaige vergleichbare Einsätze in der Zukunft lernen ließe. Sadat Hadjer zeichnet zunächst die Vorgeschichte des Einsatzes nach. 1989 endete die jahrelange sowjetische Besetzung Afghanistans. Anschließend versank das Land im Bürgerkrieg, aus dem die radikalislamischen Taliban als Sieger hervorgingen. Abseits des Interesses der westlichen Welt hätten sie dort ungestört lange herrschen können, wenn nicht Osama bin Laden am 11. September 2001 der bislang schwerste Anschlag in der Geschichte des Terrorismus gelungen wäre. Da den amerikanischen Diensten die Verbindungen zwischen bin Ladens Organisation und den Taliban bekannt waren, war nach dem 11. September klar, dass die USAUnited States of America auch gegen die Taliban vorgehen und sich in Afghanistan engagieren würden. Die NATO hatte nach den Anschlägen den Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrags ausgerufen. Die Bundesrepublik konnte als Partner der USAUnited States of America nicht abseits stehen. Der Bundestag beschloss die Beteiligung der Bundeswehr an den Einsätzen in Afghanistan. In diesem Fall war der Plural durchaus problematisch. Es liefen zwei Einsätze parallel. „Operation Enduring Freedom“, kurz OEFOperation Enduring Freedom, hatte die aktive Bekämpfung der Taliban zum Ziel. Davon getrennt war der Einsatz der „International Security Assistance Force“ (ISAFInternational Security Assistance Force). Sie sollte durch Unterstützung der afghanischen Sicherheitsorgane die nötige Sicherheit im Land herstellen, um der afghanischen Regierung die Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen. Diese Zweiteilung trug „zur Gefährdung der Mission bei“, wie Sadat Hadjer hervorhebt, „denn es war keine einheitliche Führung gewährleistet, die die vorhandenen Handlungsspielräume ausschöpfen könnte“ Erst 2008 wurde dieser Missstand faktisch beseitigt, indem der amerikanische Oberkommandierende der ISAFInternational Security Assistance Force-Mission auch das Kommando über die USUnited States-Truppen erhielt, die der OEFOperation Enduring Freedom zugeordnet waren. Auch die im Verhältnis zur territorialen und demographischen Größe des Landes relativ geringe Präsenzstärke der westlichen Truppen war nicht geeignet, den gewünschten Erfolg zu begünstigen. Für die USAUnited States of America als mit Abstand größtem Truppensteller hatten seit 2003 ihr Engagement im Irak und die damit angestrebte Neuordnung des Nahen Ostens Priorität. Die Führung der ISAFInternational Security Assistance Force-Mission wurde der NATO übertragen. Amerika war an stärkerem Engagement der westlichen Partner interessiert. Die Bundesregierung sah hier eine Gelegenheit, das beiderseitige Verhältnis zu verbessern, das 2002/03 unter der scharfen deutschen Ablehnung des USUnited States-Engagements im Irak gelitten hatte. „Kunduz mutete im Vergleich zum Irak als das kleinere Übel an„. Deshalb wurde das deutsche Engagement in Afghanistan 2003 ausgeweitet. Man übernahm von den USAUnited States of America die Zuständigkeit für das „Provincial Reconstruction Team“ (PRTProvincial Reconstruction Team) im nordafghanischen Kunduz. Hatte der Einsatz sich anfänglich auf die Region um die Hauptstadt Kabul konzentriert, ging man mit den PRTProvincial Reconstruction Team in die Fläche. Diese Teams sollten an ihren jeweiligen Standorten der afghanischen Regierung bei der Ausweitung ihrer Autorität helfen sowie durch Ausbildung afghanischer Soldaten und Polizisten ein sicheres Umfeld schaffen und damit den Wiederaufbau fördern. Ein großes Problem war, dass diesem Unterfangen kein einheitliches Konzept zugrunde lag. Die über 20 PRTProvincial Reconstruction Team wurden von unterschiedlichen Nationen geführt. Es gab keine verbindlichen Vorschriften über die Zusammensetzung und die Ausgestaltung der praktischen Tätigkeit der PRTProvincial Reconstruction Team. So wurden die festgelegten Aufgaben der PRTProvincial Reconstruction Team durch die verschiedenen Nationen „gemäß nationalen Ziel- und Prioritätensetzungen und den lokalen Gegebenheiten“ interpretiert. Im Unterschied etwa zu den militärisch geführten PRTProvincial Reconstruction Team der USAUnited States of America legte man bei den beiden deutschen PRTProvincial Reconstruction Team in Kunduz und Faisabad großen Wert auf die zivile Komponente. Sie hatten eine gleichberechtigte militärisch-zivile Doppelspitze, wobei der zivile Leiter vom Auswärtigen Amt gestellt wurde. Neben diesem war auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit Personal vertreten. Für die Bundesregierung lag der Schwerpunkt „auf der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbauarbeit und weniger auf der militärischen Präsenz“. Viele zivile Hilfsorganisationen, die in Afghanistan tätig waren, hielten vom Konzept PRTProvincial Reconstruction Team wenig. In diesen Kreisen machte der abfällige Spruch die Runde, PRTProvincial Reconstruction Team stehe nicht für „Provincial Reconstruction Team“, sondern für „Public Relations Team“. Es gehe ISAFInternational Security Assistance Force lediglich darum, den Anschein großer Fortschritte beim Wiederaufbau und der Stabilisierung des Landes zu erwecken. Auch in den Organisationen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, etwa im Deutschen Entwicklungsdienst, war die Meinung verbreitet, die Bundeswehr würde die Prinzipien der Entwicklungszusammenarbeit “zugunsten von Propagandazwecken…nahezu ignorieren„. Das anfangs schwierige Verhältnis zwischen der Bundeswehr und den Durchführungsorganisationen des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wurde mit der Zeit besser. Viele Hilfsorganisationen, die nicht zum Geschäftsbereich von Ministerien gehörten, hielten hingegen an ihrer Distanzstrategie gegenüber den ISAFInternational Security Assistance Force-Streitkräften fest. In deren Wahrnehmung waren die westlichen Streitkräfte in Afghanistan Konfliktpartei. Die Philosophie dieser Organisationen sieht vor, sich keiner Konfliktpartei anzunähern. Darüber hinaus forderte etwa der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V.eingetragener Verein die Abschaffung der PRTProvincial Reconstruction Team. Diese hätten, so hieß es, in Nordafghanistan “eine zuvor zivile Situation militarisiert„. Eine solche Einschätzung zeugt zum einen von tief eingewurzelten grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber allem Militärischen, wie sie in gewissen Milieus vorkommen. Zum andern scheint dieser Kritik eine Verwechslung von Ursache und Wirkung zugrunde zu liegen. Wenn infolge einer – in diesem Fall durch die Taliban begründeten – Bedrohungslage zivile Hilfsbemühungen nicht ohne militärischen Schutz auskommen, sind dann für die sogenannte Militarisierung nicht jene verantwortlich, von denen die Bedrohung ausgeht? Die PRTProvincial Reconstruction Team, insbesondere die deutschen, widmeten sich auch der Durchführung kleinerer Hilfsprojekte. Insofern mag die Haltung der zivilen Hilfsorganisationen auch darauf zurückzuführen sein, dass sie es ungern sahen, wenn andere, noch dazu Soldaten, das betrieben, was sie als ihre exklusive Domäne ansahen. Für die zivil-militärische Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung gab es keine für alle PRTProvincial Reconstruction Team verbindlichen Vorgaben. In den deutschen PRTProvincial Reconstruction Team setzte man vor allem auf das Gespräch. Ein damit befasster Kamerad brachte das Konzept prägnant auf den Punkt: “Präsenz zeigen, patrouillieren, Gespräche führen, Vertrauen gewinnen„. In möglichst regelmäßigen Gesprächen mit Dorf- und Stammesältesten sowie Vertretern der lokalen Verwaltung wurden Informationen zur Sicherheitslage und zur humanitären Situation gesammelt. So ließen sich sowohl der Eigenschutz der Truppe verbessern als auch Ansätze für Hilfsprojekte identifizieren. Freilich stieß das Konzept an gewisse Grenzen. Das Einsatzgebiet der Bundeswehr umfasste annähernd 65 000 Quadratkilometer. Für dauernden, flächendeckenden Kontakt zu der über dieses Gebiet verstreut lebenden Bevölkerung reichte der für die zivil-militärische Zusammenarbeit vorgesehene Kräfteansatz bei weitem nicht aus. Auch die mit in der Regel vier Monaten relativ kurze Stehzeit der Einsatzkontingente in Afghanistan war nicht unbedingt hilfreich beim Aufbau langfristiger Vertrauensverhältnisse zu Einheimischen. Nachdem 2007 bei einem Anschlag in Kunduz drei Soldaten ums Leben gekommen waren, wurde außerdem aus Sicherheitsgründen die Reichweite erheblich beschränkt. Ab jetzt fanden Gespräche mit Einheimischen nur noch in der unmittelbaren Umgebung der Standorte der beiden deutschen PRTProvincial Reconstruction Team statt. In ihrem Fazit prognostiziert Sadat Hadjer, dass sich in Zukunft „institutionalisierte zivil-militärische Strukturen angesichts der Zunahme integrierter Missionen zu einem vermehrten Phänomen entwickeln“ werden. Prognosen sind immer schwierig, ganz besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Im Gegensatz zur Autorin kennt der heutige Leser der Arbeit den Fort- und Ausgang der Sache. Die Prognose hat sich nicht bewahrheitet. Eine massive Zunahme integrierter Missionen in der Art und Größenordnung wie in Afghanistan ist nicht zu verzeichnen. Vielmehr sorgen aktuelle Entwicklungen dafür, dass sich die Bundeswehr für die absehbare Zukunft wieder auf den Zweck zu besinnen und zu fokussieren hat, zu dem sie vor fast 70 Jahren gegründet wurde: die Landes- und Bündnisverteidigung. Die zivil-militärische Zusammenarbeit ist auch in diesem Zusammenhang ein nicht zu vernachlässigender Aspekt. Sie wird sich jedoch völlig anders darstellen als in Afghanistan oder Mali. In den Partnerländern an der Ostflanke des NATO-Gebiets ist kein Erfordernis einer Kooperation mit Entwicklungshelfern oder Hilfsorganisationen wie der Deutschen Welthungerhilfe zu erwarten. Auch mit viel gutem Willen wird man den Einsatz in Afghanistan nicht als Erfolg betrachten können. Nach dem hastigen Abzug der westlichen Truppen 2021 beherrschen nun wieder die Taliban das Land, wie sie es bis Ende 2001 bereits beherrscht haben. Die Ursachen des Scheiterns, so darf man vermuten, werden derzeit höheren Orts analysiert. Einige Ursachen lagen auch 2009 bereits klar zutage, wie man Sadat Hadjers Text entnehmen kann. So verweist sie auf die zentrale Rolle, die das Nachbarland Pakistan spielte. Pakistan duldete Grenzübertritte der Taliban und räumte ihnen im Grenzgebiet zu Afghanistan weitgehende Bewegungsfreiheit ein. Nicht von ungefähr wurde Osama bin Laden, den man 2001 in Afghanistan vergeblich suchte, zehn Jahre später in Pakistan aufgespürt und ausgeschaltet. Da mutet es aus heutiger Sicht prophetisch an, wenn Sadat Hadjer schreibt: „Solange Pakistan nicht aktiv bei der Bekämpfung der Taliban…kooperiert, werden die Koalitionstruppen nicht in der Lage sein, Afghanistan zu stabilisieren“. Ob und inwieweit die Analyse der Ursachen des Scheiterns künftig in vergleichbaren Einsatzfällen bessere Erfolgsaussichten eröffnet, bleibt abzuwarten. Der Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik in der Stiftung Wissenschaft und Politik, Markus Kaim, machte 2021 bei UNOUnited Nations Organization, NATO und EU „eine erkennbare Zurückhaltung aus, sich auf großformatige Stabilisierungseinsätze einzulassen“ und fügte hinzu: „Soweit wir schauen, scheint mir die große Epoche von Auslandseinsätzen, wie wir sie mit…Afghanistan hatten, erst einmal zu Ende zu gehen“. Manches spricht dafür, dass er damit recht behält. Dennoch ist es sinnvoll, dass der Deutsche Bundestag und auch die Bundeswehr sich mit der Auswertung des Afghanistaneinsatzes beschäftigen. Die Fehler auf der politischen, strategischen und taktischen Ebene müssen klar identifiziert werden. Denn, wie bereits gesagt, Prognosen sind schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Wer weiß, wie sich das Internationale Krisenmanagement weiterentwickeln wird. Denn der Konflikt mit Russland genauso wie die Konkurrenz mit China findet auch in Regionen ausgetragen, in denen die Internationale Gemeinschaft nicht zuletzt aus humanitären Gründen eingreifen muss. 

Text: Christoph Kuhl
Gelesen von: Christoph Jan Longen 
 

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