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Brennender Enzian: Die Operationsplanung der NATO für Österreich und Norditalien 1951 bis 1960

Brennender Enzian: Die Operationsplanung der NATO für Österreich und Norditalien 1951 bis 1960

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Herzlich willkommen zu „Angelesen„, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch von Dieter Krüger, Brennender Enzian. Die Operationsplanung der NATO für Österreich und Norditalien 1951 bis 1960, vor. Es erschien im Jahr 2010 im Rombach-Verlag. Spätestens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 atmete die Menschheit auf. Wie ein düsterer Schatten hatte sich die Angst vor einem globalen Atomkrieg für nahezu ein halbes Jahrhundert auf das Leben der Menschen gelegt. Namentlich während der Kuba- und Berlinkrise 1958 bis 1962 sowie in der Raketenkrise zwischen 1980 und 1985 war die Sorge allgegenwärtig, der Ost-West-Konflikt könne in eine den ganzen Erdball verwüstende atomare Auseinandersetzung eskalieren. In der Wahrnehmung der Menschen schien das Atomzeitalter jetzt, 1991, vorüber; andere Gefahren wie Terrorismus, Eurokrise, Migration und zunehmend der Klimawandel beschäftigten jetzt die Gemüter. Der Ukrainekrieg erinnert uns heute daran, dass das Atomzeitalter alles andere als vergangen ist. Denn die russische Führung spielt ganz offen mit der Angst der Bevölkerung, vor allem in Deutschland, vor dem Atomkrieg. Dabei geht es gegenwärtig weniger um die großen strategischen Interkontinentalwaffen, sondern um die sogenannten taktischen Atomwaffen. Diese sind heute überwiegend miniaturisierte Wasserstoffsprengkörper, die sich aufgrund ihres geringen Fallouts und ihres begrenzten Wirkungsradius als Flächenwaffen in einem begrenzten Krieg wie dem in der Ukraine eignen würden. Dass bis zum heutigen Tage taktische Atomwaffen niemals eingesetzt wurden, liegt an den kaum kalkulierbaren Folgen. Es lässt sich eben nicht ausschließen, dass ihre Verwendung rasch in einen nuklearen Schlagabtausch größeren oder gar globalen Ausmaßes eskalieren könnte. Es mag mithin der richtige Zeitpunkt sein, an die Studie des Zeithistorikers Dieter Krüger aus dem Jahre 2010 zu erinnern. Krüger war in der Registratur des Supreme Headquarters Allied Powers Europe im belgischen Mons auf einen Bestand von mikroverfilmten Unterlagen des längst aufgelösten NATO-Kommandos der alliierten Landstreitkräfte in Südeuropa in Verona/Italien mit der Bezeichnung „LANDSOUTH“ aus den Jahren 1951 bis 1960 gestoßen. Der Bestand war aus zwei Gründen von militärhistorischer Bedeutung. Zum einen lagen damit die tatsächlichen Planungen der NATO zur Verteidigung des Alpenraumes vor. Es handelte sich also nicht um Übungsszenarien, sondern um echte Unterlagen für den Verteidigungsfall samt Vorstudien. Leider sind solche geheim eingestuften Unterlagen insgesamt selten, weil die Herausgeber meist bestrebt waren, sie so rasch wie möglich zu vernichten, sobald sie durch neue Dokumente ersetzt wurden. Zum anderen offenbaren diese Unterlagen, wie die NATO sich die Nuklearisierung des Bodenkrieges im Verteidigungsfall damals vorstellte. Im Zuge des Aufbaus der Militärorganisation der NATO wurde am 10. Juli 1951 die NATO-Kommandobehörde „LANDSOUTH“ eingerichtet. Sie war dem NATO-Oberkommando Südeuropa nachgeordnet und befehligte im Verteidigungsfall die Landstreitkräfte der NATO in ihrem Zuständigkeitsbereich. Dieser erstreckte sich über die gesamte östliche Poebene, das Trentino, Südtirol und bis 1955 auf das von den Westmächten besetzte westliche Österreich bis hinein in das bayerische Voralpenland. Da das italienische Heer die Masse der verfügbaren Truppen stellte, unterstand die integrierte Kommandobehörde mit italienischen, amerikanischen, französischen und britischen Offizieren einem italienischen Vier-Sterne-General. Im Verteidigungsfall hätten sich die insgesamt schwachen alliierten Verbände in Österreich dem Befehl von LANDSOUTH unterstellt, um rasch auf die italienische Grenze zurückzugehen. Folglich hatte LANDSOUTH auf einem langgezogenen Bogen zu verteidigen, der von Triest am Mittelmeer entlang des Isonzo bis Tarvsio im Länderdreieck von Österreich, Slowenien und Italien und dann weiter in ost-westlicher Richtung in den italienisch-österreichische Alpen bis zum Reschenpass verlief. Land erwartete einen Vorstoß des Warschauer Paktes aus vier Richtungen: erstens durch das jugoslawische Slowenien nach Friaul-Julisch-Venetien, zweitens aus dem Raum Wien sowohl durch Kärnten Richtung Udine als auch über Toblach Richtung Bozen, drittens aus dem Innviertel in Oberösterreich über Kufstein durch das Inntal über den Brennerpass nach Bozen und möglicherweise, viertens, mit einem Stoß aus dem Raum München über den Seefelder Sattel in Tirol ebenfalls ins Inntal. Das Gefecht sollte mit Panzeraufklärungsverbänden in Slowenien und Kärnten aufgenommen werden. Dass man mit eigenen Kräften bereits am Isonzo würde verteidigen können, galt als „best case“-Szenario. Wahrscheinlicher war das Verzögerungsgefecht mit einer befestigten Verzögerungslinie am Tagliamento bis zum Flüsschen Livenza. Hier sollte der Gegner mit dem 15 Tage nach Beginn der Kampfhandlungen weitgehend mobil gemachten italienischen Heer zum Halten gebracht werden. Schon 1954 dachte LANDSOUTH über den Einsatz von Atomsprengköpfen gegen die Angriffsrouten des Gegners nach. Insbesondere in Gebirgstälern erwartete man eine erhebliche Vernichtungs- und Sperrwirkung. Die Masse der vorhandenen Atomsprengkörper wäre jedoch im Rahmen des auf den gesamten europäischen Kriegsschauplatz ausgelegten „Atomic Strike Plan“ des Obersten NATO-Befehlshabers für Europa seit 1954 vor allem gegen die Luftstreitkräfte des Warschauer Pakts eingesetzt worden. In eigener Zuständigkeit plante LANDSOUTH Ende 1954 Atomeinsätze bei Leoben (Steiermark), Tarvisio, Lienz (Osttirol), Kufstein, Mittenwald (beide in den bayerischen Alpen), Gorizia, Nova Gorizia (am Isonzo an der italienisch-slowenischen Grenze, bei Miren Kostanjevica, Črniče und Adjovščina (alle grenznah in Slowenien) und Doberdò del Lago (vorgelagert auf der italienischen Seite) mit Ladungen zwischen 33 und 73 Kilotonnen (Kt). Die Sprengkraft der Hiroshimabombe betrug etwa 15 Kt. Den Seefelder Sattel beispielsweise hoffte man bei Scharnitz mit wenigen italienischen Geschützen, einem österreichischen Infanteriebataillon und einigen Pionieren gegen etwa anderthalb gegnerische Divisionen verteidigen zu können, nachdem man einem Atomsprengkörper von 33 Kt nördlich Mittenwald gezündet hätte. Zur Ausführung dieser Schläge wäre LANDSOUTH vorläufig auf die Luftstreitkräfte angewiesen gewesen. Aber man hatte bereits die Zuteilung von Kurzstreckenraketen des Typs „Corporal“ und „Honest John“ sowie Atomminen beantragt. Bei der Verteidigung der Livenza-Linie sollten etwa 3 Wochen nach Beginn der Kampfhandlungen insgesamt fünf Atomschläge auf das Vorfeld den Gegenangriff des italienischen Heeres vorbereiten. Nachdem Österreich 1955 in eine zunächst kaum bewaffnete Neutralität entlassen worden war, drohte den NATO-Verbänden ein massiver gegnerischer Vorstoß in den Rücken der in Friaul und Venetien aufmarschierten Verbände. Denn LANDSOUTH nahm an, dass der Gegner die österreichische Neutralität nicht respektieren werde. Daher plante man die Verteidigung des Inntals samt Brenner- und Reschenpass durch ein verstärktes italienisches Panzeraufklärungsregiment. Durch das Ende der Besatzung in Österreich wurden etwa 5 000 amerikanische Soldaten frei. Aus diesem Grundstock wurde im Herbst 1955 eine Atomartilleriebrigade, die „Southern European Task Force“ unter einem amerikanischen Kommandeur aufgestellt. Damit verfügte LANDSOUTH über eine eigenständige Nuklearkomponente mit zunächst einem Bataillon „Honest John“ und zwei Bataillonen „Corporal“, die 1957 jedoch nur über neun Sprengkörper verfügten. Mit wachsender Verfügbarkeit sollten auch Atomminen zum Einsatz kommen. Mit ihnen konnten vor allem Gebirgstäler und Pässe wirksam gesperrt werden. Allerdings war ihr Fallout erheblich. Der Einsatz taktischer Atomwaffen war an die Freigabe durch den Obersten Befehlshaber in Europa und den NATO-Oberbefehlshaber Südeuropa gebunden. Gegen Ende der 1950er Jahre begann man, amerikanische teilweise durch italienische Verbände zu ersetzen. Mit der „Southern European Task Force“ wurde auch die gescheiterte Vermehrung des italienischen Heeres ausgeglichen, die sich als nicht finanzierbar erwiesen hatte. Aufgabe der „Southern European Task Force“ war es, das Verzögerungsgefecht mit erster Priorität in Friaul-Julisch Venetien und mit zweiter Priorität in den österreichischen Alpen nuklear zu unterstützen. Ein Problem war die geringe Zielgenauigkeit der „Corporal“-Rakete mit ca. 130 km Reichweite, die man durch hohe Ladungen von 100 Kt auszugleichen hoffte. Damit eignete sich die Rakete nicht für den Einsatz im Nahbereich eigener Truppen, für den die „Honest John“ mit ca. 30 km Reichweite eher in Frage kam. Im Gegensatz zur Bekämpfung vorgeplanter Ziele im Rahmen des „Strike Plan“ war der Nukleareinsatz im laufenden Gefecht eine komplexe Führungsaufgabe. Ganz abgesehen von der Verlegung der Werfer und der Atomsprengkörper aus ihren besonders gesicherten Depots in den Einsatzraum, stellt die Koordination von Artillerie und/oder Luftunterstützung mit den Panzer- und mechanisierten Verbänden selbst im konventionellen Bewegungsgefecht eine professionelle Herausforderung dar. Erst recht gilt das für den Nukleareinsatz, da hier noch die Begründung des Einsatzes und dessen Freigabe durch übergeordnete Kommandobehörden hinzukamen. Der Nukleareinsatz gegen bewegliche Ziele scheiterte folglich in einschlägigen Übungen häufig an der verspäteten Freigabe. Schließlich war die Zielplanung mit dem Strike Plan des Obersten NATO-Befehlshabers in Europa und dem „Regional Strike Plan“ der übergeordneten NATO-Kommandobehörde Südeuropa sowie die Zusammenarbeit mit den Luftstreitkräften zu koordinieren. Diese blieben für die großräumige Gefechtsfeldabriegelung, englisch „Air Interdiction“, zuständig, während die sogenannte Nahunterstützung hauptsächlich der Bodentruppen der „Southern European Task Force“ oblag. Unterschiedliche Prioritäten zwischen diesen Führungsinstanzen infolge unterschiedlicher Aufgaben blieben bestehen. Dem Trend zur Vorneverteidigung in Mitteleuropa folgend, sahen die Pläne von LANDSOUTH für 1958 und 1960 eine Verteidigung soweit östlich wie möglich vor. Abhängig von der Haltung Jugoslawiens, wollte man im besten Fall bereits am Isonzo, spätestens aber an den westlichen Ausläufern des Karstgebirges den Kampf aufnehmen. Ganz Friaul-Julisch Venetien und sein slowenisches sowie österreichisches Vorfeld sollte zum Schlachtfeld eines Bewegungsgefechts werden, in dem taktische Atomwaffen sowohl zur Abwehr gegnerischer Angriffskonzentrationen als auch zur Vorbereitung von Gegenangriffen eigener gepanzerter und mechanisierter Verbände eingesetzt worden wären. Da auch der Gegner über taktische Atomwaffen verfügte, mussten die NATO-Streitkräfte über die Fähigkeit verfügen, sowohl rasch Angriffskonzentrationen zu bilden als auch genauso schnell wieder aufzulockern. Der gegenwärtige Ukrainekrieg scheint den taktischen Grundsatz von Feuer und Bewegung ebenso eindrucksvoll zu bestätigen wie die Wirkung der Gefechtsfeldabriegelung. Der dauerhafte, massive Einsatz von Atomsprengkörpern mit Ladungen von 10 bis zu mehreren hundert Kilotonnen hätte deren Bedeutung vermutlich in Frage gestellt. Versprengte Einheiten ohne nachhaltigen Führungszusammenhang und wirksame Logistik hätten in einer nuklear verwüsteten, deformierten voralpinen und alpinen Landschaft agiert, für die Krüger das Sinnbild des brennenden Enzians gewählt hat. Wie Krüger anhand ihrer Bedrohungsanalysen nachweist, hielt die Kommandobehörde LANDSOUTH einen Angriff des Warschauer Pakts – der nur im Rahmen einer gesamteuropäischen militärischen Auseinandersetzung denkbar war – für nicht wahrscheinlich. Gleichwohl bereitete man sich darauf vor, um dem in Europa konventionell überlegenen möglichen Gegner glaubwürdig Abschreckung zu signalisieren. In den Dekaden nach dem Ende des Kalten Krieges griff die Überzeugung um sich, Abschreckung sei irgendwie von gestern. Klassische Kriege in Europa galten als undenkbar. Man glaubte sich auf das Angriffsverbot des Völkerrechts und die engen Wirtschaftsbeziehungen verlassen zu können. Die wenigen taktischen Atombomben, die Deutschland im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO auf deutschem Boden noch lagerte, wollten viele loswerden. Vergessen war, dass der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow Ende der 1950er Jahre und dann seine Nachfolger in der Raketenkrise der frühen 1980er Jahre gehofft hatten, aus der Angst vor dem Atomkrieg politisch Kapital zu schlagen.  In den 1980er Jahren fand die Sowjetführung für ihre Absicht, selbst umfassend atomare Mittelstreckenwaffen aufzustellen und eine entsprechende Nachrüstung der NATO zu verhindern, einen Resonanzboden in der deutschen und europäischen Friedensbewegung. Mit dem Rückhalt in der Allianz beharrten die Bundesregierung und andere Regierungen jedoch auf der Nachrüstung. Das Ende des Kalten Krieges war damit eingeläutet, wie sich später herausstellte. Taktische Atomwaffen können heute weitgehend durch konventionelle Waffen mit ähnlicher Wirkung ersetzt werden. Folglich sollte man russische Drohungen nicht überbewerten. Moskau hofft vor allem die Bevölkerung der NATO-Staaten einzuschüchtern, um die Unterstützung zu konterkarieren, mit der diese Staaten den Abwehrkampf der Ukraine unterstützen. Gegen solche Bestrebungen sollte die Allianz dem gegenwärtigen Herausforderer eine ebenso entschlossene, das heißt auch nukleare Abschreckung signalisieren wie im Kalten Krieg. Denn die verhaltene Reaktion vieler Mitgliedsstaaten der Allianz auf die Annexion der Krim hat Moskau offenbar als Zeichen der Unentschlossenheit und Schwäche gedeutet. Das war „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute mit dem Buch von Dieter Krüger, Brennender Enzian. Text Redaktionsteam des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, gelesen von Heiner Möller.

von Stefan Brenner

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