Besuch im Soldatenhimmel- Transkript
Besuch im Soldatenhimmel- Transkript
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Herzlich willkommen zu Angelesen! Dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch „Besuch im Soldatenhimmel“ von Martin Kutz vor. Es trägt den Untertitel „Ein wissenschaftlicher Reisebericht aus einer anderen Welt“ und erschien 2022 im Miles-Verlag. Lassen Sie mich gleich vorweg feststellen: Dieses Buch ist ein großes Lesevergnügen. Zwar verspricht der Autor im Untertitel, einen wissenschaftlichen Reisebericht zu liefern. Und tatsächlich. Zwei der Hauptfiguren, die sich auf die Reise in eine andere Welt machen, sind Wissenschaftler, und die Beschreibung der dabei gewonnenen Erkenntnisse erfordert durchaus historische Expertise. Dennoch kommt einem die Geschichte so vor, als hätte der Autor einen vom Alkohol begünstigten Traum zu Papier gebracht. Tatsächlich stellt er gleich zu Beginn klar, dass im Vorfeld der Reise viel Calvados und Bier im Spiel waren. Worum geht es nun in dieser ungewöhnlichen und dabei überaus amüsanten Geschichte? Der Autor, ein Historiker und Beamter, und sein Freund, ein Politikwissenschaftler und aktiver Offizier, sitzen an der Theke im Kasino der Führungsakademie der Bundeswehr. Beide sind promovierte Dozenten und kommen ins Gespräch mit dem ihnen gut bekannten Spieß ihres Fachbereiches, einem Hauptfeldwebel. Er trägt den Nachnamen „Scharnwild“. Hinter der Theke bedient ein ihnen unbekannter Grundwehrdienstleistender im Dienstgrad eines Hauptgefreiten. Ihr kontrovers geführtes Gespräch dreht sich um die Frage, ob man als Nachgeborener überhaupt die Leistungen von Soldaten aus vergangenen Zeiten richtig beurteilen könne. Der Hauptgefreite warf dem Autor unverblümt vor, er als Zivilist mit einem nur angelesenen Wissen über Soldaten dürfe gar nicht über diese urteilen. Als sich die Situation zuspitzt, versucht der Spieß zu schlichten, indem er sagt: „Meine Herren Doktoren, schauen wir uns doch mal die Geschichte vor Ort an. Wenn Sie Lust und den Mut dazu haben, gehen wir durch die Militärgeschichte in den Soldatenhimmel. Dort können sie selbst die Wahrheit sehen.“ Nun sind Wissenschaftler neugierig, und daher ist es nicht verwunderlich, dass sich alle vier auf den Weg in den Soldatenhimmel machen. Dieser erweist sich als durchaus beschwerlich – sicherlich auch, weil die beiden Dozenten zu viel getrunken haben. Aber der Weg in den Soldatenhimmel führt zunächst durch die Hölle und anschließend noch durch das Fegefeuer. Der Reisebericht zeigt also nicht nur auf, wie man in den Soldatenhimmel kommt, sondern auch, was mit all den Soldaten passiert, die in der Hölle schmoren. Schnell wird klar, weshalb Martin Kutz‘ Buch vor allem für die Angehörigen der Bundeswehr überaus interessant ist. Im Kern stellt es eine Allegorie, also eine bildliche Darstellung des Traditionsverständnisses der Bundeswehr dar. Nun ist Tradition in der Bundeswehr bekanntermaßen ein Auswahlprozess. Nur Personen aus der Geschichte, die bestimmte, für uns heute wichtige Kriterien erfüllen, haben eine Chance, als Namensgeber beispielsweise von Kasernen ausgewählt oder jungen Soldatinnen und Soldaten als Vorbild empfohlen zu werden. Oder, in den Worten Martin Kutz‘, in den Soldatenhimmel zu gelangen. Wer sich nicht durch den in Amtssprache verfassten Traditionserlass der Bundeswehr von 2018 durchkämpfen möchte, hat mit dem „Besuch im Soldatenhimmel“ eine vergnügliche Alternative. Unsere vier Protagonisten begeben sich also auf die gemeinsame Reise. Schnell erkennen die beiden Dozenten, dass es sich bei dem Hauptgefreiten um einen Teufel handelt. Seine Hörner waren immer deutlicher zu sehen und er hinkte immer stärker. Ihr Spieß dagegen schien mit dem Himmel gut vertraut zu sein. War er auf die Welt zurückgekehrt, um sie zu verbessern? Um nicht zu lange unterwegs zu sein, einigten sich die Vier darauf, die Hölle nur an ausgewählten Beispielen zu studieren. Jeweils eine Szene aus Mittelalter, früher Neuzeit und dem zwanzigsten Jahrhundert sollte reichen, um die Funktionsweise der Hölle zu verstehen. Als sie dort ankamen, schien zunächst alles geradezu paradiesisch ruhig zu sein. Doch schon bald kamen sie an einem Ort, an dem zwei Räuberbanden sich bestialisch bekämpften. Als wäre dieser mit Stich- und Hiebwaffen ausgeführte Kampf nicht schon Hölle genug – beide Banden mussten mehrmals am Tag dieses Gemetzel wiedererleben. Zum Zeitpunkt der Reise hatten sie schon 630 Jahre des Tötens und Getötet Werdens hinter sich. Das war also ihre Strafe für Totschlag und Mord sowie Vergewaltigungen und Zügellosigkeiten: Sie mussten in der Hölle tagein tagaus das gleiche mörderische Treiben erleben wie zu ihren Lebzeiten auf Erden. Die zweite Szene, der sie beiwohnten, stammte aus der frühen Neuzeit. Sie wurden Zeuge einer der damals üblichen Hinrichtungszeremonien. An einem großen Baum hingen mehrere Delinquenten wie Würste in einer Räucherkammer. Sie hatten als Soldaten geplündert, gemordet, vergewaltigt oder den Gehorsam verweigert. Auch dieses Geschehen wiederholte sich für die Delinquenten immer wieder. Die dritte Szene stammte aus dem Zweiten Weltkrieg. Ukraine 1941: Deutsche Soldaten trieben Frauen und Kinder in eine Scheune und steckten sie an, weil sie zuvor aus dem Dorf beschossen worden waren. 1945 mussten sie dann mit ansehen, wie sowjetische Soldaten in ihre Dörfer in Preußen einfielen und ihre eigenen Familien umbrachten. Auch sie erlebten die Grausamkeiten tagtäglich und mehrfach nach dem gleichen Schema, ohne Hoffnung auf ein Ende. Zumindest solange sie nicht die Verwerflichkeit ihres eigenen Tuns einsahen und Reue zeigten. Es gibt also einen Weg aus der Hölle in das Fegefeuer. Das Immer-wieder-Neuerleben des Schreckens konnte beendet werden, wenn Soldaten ihre eigenen Missetaten einsahen und diese aufrichtig bereuten. Dass vielen Einsicht und Reue schwerfiel, erlebte der Autor am Beispiel des Generals von Seeckt. Der ehemalige Chef der Heeresleitung der Reichswehr hing an einer Felswand, die Hölle und Fegefeuer voneinander trennte, als unsere beiden Wissenschaftler vorbeikamen. Der Autor beschreibt die Szene mit folgenden Worten: „Gerade als Seeckt sich über den Rand legen wollte und glaubte, es geschafft zu haben, aus der Soldatenhölle ins Fegefeuer zu gelangen, stand dort ein kleiner Teufel und fragte ihn etwas. Seeckt gab Antwort, der Teufel nickte. Dann war ich ihm so nahe gekommen, dass ich mithören konnte. Der Teufel fragte ihn nun, wem er denn gedient habe. „Dem Kaiser“, war die Antwort und dann: „Der Armee nach dem großen Krieg.“ „Und wem hättest Du nach dem Krieg dienen sollen?“ Dem Kaiser und der Armee“, war wieder die Antwort. „Falsch“ sagte der Teufel. Seeckt überlegte einige Zeit und antwortete ein zweites Mal fragend: „Der Republik und der Verfassung?“ „Ja“, antwortete der Teufel. „Niemals!“, kam es von den zusammengepressten Lippen. „Dann marsch, marsch, zurück!“ schnauzte der kleine Teufel, trat dem abgekämpften alten Herrn auf die Finger, dass er losließ und mit einem angstgrellen Schrei die Felsmauer hinunterfiel. Man hörte es unten merkwürdig aufklatschen, näheres sehen konnte ich aber nicht. „Es tut nur weh“, sagte mir der Hinkefuß, „er wird sich bald wieder berappeln und von neuem mit dem Klettern beginnen.“ „Ob er dann jemals herauskommt? Meine Frage wurde nur mit einem Schulterzucken beantwortet.“ Soweit die Beschreibungen des Autors. Wie geht es im Himmel weiter? Wer in den Soldatenhimmel möchte, muss sich einer Prüfungskommission stellen. Ihre Mitglieder sind Personen, deren Traditionswürdigkeit zweifelsfrei feststeht. Dazu gehören die Generale Scharnhorst, Clausewitz und Montecuculi, sodann ein Zivilist, der Militärhistoriker Delbrück, und schließlich ein wehrpflichtiger einfacher Soldat, der Soldat Schweijk. Letzterer soll besonders darauf achten, ob die Prüflinge sich in guter Menschenführung bewährt hatten. Leider konnten unser Autor und sein befreundeter Offizier nicht vor Ort miterleben, wie mit den Generalen Wolf Graf von Baudissin und Ulrich de Maizière die ersten Generale der Bundeswehr vor der Aufnahme in den Soldatenhimmel standen. Der Spieß erzählte ihnen aber den Ausgang der Generalsprüfung. Baudissins Aufnahme sei problemlos verlaufen, weil er sich für die demokratieverträgliche Bundeswehr eingesetzt und nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst als Direktor des Instituts für Friedensforschung gewirkt habe. De Maizière sei schließlich abgelehnt worden, weil er in seinen Memoiren seine Rolle im Russlandkrieg nicht wirklich offenlegte und behauptete, er habe von den Kriegsverbrechen nichts gewusst. Generale des Zweiten Weltkrieges waren im Himmel nicht vertreten. General Manstein beispielsweise erlebte dreimal am Tage seine auf ihn zugeschnittene Hölle: „Erst wird er durch Hitler persönlich zum Generalfeldmarschall befördert und wenn er aus dem Empfangssaal der Reichskanzlei durch die Tür heraustritt, stolpert er mit dem nächsten Schritt in den Saal des Curiohauses in Hamburg, in dem er als Kriegsverbrecher verurteilt wurde.“ Als besonderen Höhepunkt der Reise bewertet der Autor die Begegnung mit Friedrich dem Großen. Er sah ihn in einer Bibliothek. Der Autor, ein kritischer Sozialhistoriker, gibt offen zu, dass er, hin und her gerissen zwischen seiner demokratisch-republikanischen Gesinnung und seiner Ehrfurcht vor der großen historischen Gestalt, ihn verlegen mit „Majestät“ ansprach. Auf die Frage, ob er Flöte spiele, antwortete er mit einem militärischen „Jawohl“. Allerdings hatte Friedrich der Große wegen seiner Angriffskriege und nicht immer guten Behandlung seiner Soldaten im Himmel eine kleine Strafe auferlegt bekommen: Er musste den Nutzern der Bibliothek dienlich sein. Freimütig gibt der preußische König zu, dass diese Strafe höher ausgefallen wäre, wenn damals schon der Soldat Schweijk in der Prüfungskommission gesessen hätte. Am Ende der Reise wurde auch klar, welche Rolle der Hauptfeldwebel innehatte. Sein Nachname „Scharnwild“ hätte gleich zu Beginn den Verdacht erwecken können, dass er ein himmlischer Gesandter ist. Tatsächlich wurde er an die Führungsakademie entsandt, um diese zu reformieren. Dies ist einer der vielen kleinen giftigen Pfeile, die der Autor auf die Führungsakademie der Bundeswehr und das Offizierkorps, vor allem die Generalität und Admiralität, abschießt. Was können wir aus dieser Reise in den Soldatenhimmel über Tradition lernen? Wir haben schon darauf hingewiesen, dass Tradition in der Bundeswehr eine Auswahl beispielsweise von Personen ist. Eine Entscheidung ist also erforderlich. Im Soldatenhimmel, so Martin Kutz, trifft eine Prüfungskommission diese Entscheidung. Sie besteht aus fünf Personen, so dass Mehrheitsentscheidungen möglich sind. Es entscheidet also nicht eine einzelne Person, sondern Menschen unterschiedlicher Herkunft – Soldaten und Zivilisten, hohe Dienstgrade und einfache Soldaten. Heute treffen gem. Traditionserlass Inspekteure und Kommandeure diese Entscheidung. Sie lassen sich dabei beraten und beteiligten nicht nur die ihnen unterstellten Soldaten und Soldatinnen, sondern auch die Bürger und Bürgerinnen des Standortes. Bis zur Entscheidung durch die militärischen Vorgesetzten ist Tradition also ein „Aushandlungsprozess“. Die Auswahlkriterien für die Aufnahme in den Soldatenhimmel sind nicht rein fachlicher Art. Es reicht nicht aus, ein militärischer Experte gewesen zu sein oder Schlachten gewonnen zu haben. Entscheidend ist, wofür man Krieg geführt hat und auch, wie man gekämpft hat. Wer für Kriegsverbrechen verantwortlich war, hatte keine Chance, in den Soldatenhimmel zu kommen. Vergebung ist allerdings möglich, und das ist auch der Grund, weshalb ehemalige Reichswehr- und Wehrmachtssoldaten, aus denen sich die Gründergeneration der Bundeswehr rekrutierte, traditionswürdig für uns heute sind. Voraussetzung dafür waren nicht nur große Verdienste beim Aufbau der Bundeswehr und deren Integration in das Bündnis und die bundesdeutsche Gesellschaft, sondern auch Einsicht und Reue über ihre Beteiligung am Eroberungs- und Vernichtungskrieg von 1939 bis 1945. Die bildhafte Darstellung des Traditionsverständnisses der Bundeswehr als eines Soldatenhimmels weist auf einen wesentlichen Faktor der Motivation von Soldaten hin: der Ruhm in der Nachwelt. Wenn man nicht an einen Himmel und schon gar nicht an einen Soldatenhimmel glaubt, dann wäre es doch schön, wenn nachfolgende Generationen den eigenen Namen in Ehren halten und sich in ihrem Denken und Handeln am eigenen Vorbild orientierten. Tatsächlich haben sich Generale und Admirale zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte schon zu Lebzeiten darum bemüht, ihr Bild in ein positives Licht für die Nachwelt zu rücken. Hier zeigt sich auch eine Funktion von Tradition, die bisher kaum beachtet wurde: Wer als Soldat von nachfolgenden Generationen für die Traditionspflege ausgewählt werden möchte, der muss sich zu Lebzeiten darum bemühen, den Ansprüchen nachfolgender Generationen zu genügen. Nicht nur der Soldaten, sondern auch der Zivilgesellschaft. Dieser Gedanke könnte tatsächlich eine wichtige Orientierung für unser Handeln geben. Der Koblenzer Entscheidungscheck für richtiges Handeln sieht vor, dass man sich die kritische Frage stellt, ob man sein geplantes Handeln vor der Weltöffentlichkeit oder vor seiner Familie rechtfertigen könne. Stattdessen könnte man auch lapidar fragen: Komme ich mit dieser Entscheidung noch in den Soldatenhimmel?