Audio Transkript von Wolf Graf von Baudissin
Audio Transkript von Wolf Graf von Baudissin
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Herzlich Willkommen zu „Angelesen.“ Dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch „Wolf Graf v. Baudissin. 1907 – 1993. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung“ vor. Hierbei handelt es sich um einen Sammelband, der von Rudolf J. Schlaffer und Wolfgang Schmidt herausgegeben wurde. Anlass war der 100. Geburtstag Wolf Graf von Baudissins, dem Vater der Inneren Führung der Bundeswehr. Die insgesamt 13 Autoren beleuchten in ihren Beiträgen Lebensweg, Leistungen und geistigen Nachlass des Grafen Baudissin, der zuletzt Generalleutnant der Bundeswehr war und damit den zweithöchsten Dienstgrad des bundesdeutschen Militärs erreichte. Wie im Grunde alle Angehörigen der Gründergeneration der Bundeswehr hat auch Baudissin in der Wehrmacht und zuvor in der Reichswehr gedient. Am deutschen Angriffskrieg war er aber nur relativ kurze Zeit beteiligt: Bereits 1941 geriet er als Hauptmann in britische Kriegsgefangenschaft. Aus dieser wurde er erst 1947 entlassen. Er arbeitete danach mit seiner Frau als Töpfer und nahm schließlich 1950 an der Konferenz im Eifelkloster Himmerod teil. Das Ergebnis der Tagung war die Himmeroder Denkschrift, die als Magna Charta der Bundeswehr gilt. Ihr fünftes Kapitel trägt die Überschrift „Das innere Gefüge“. Baudissin hat dessen Aufnahme in das Dokument gegen konservative Widerstände durchgesetzt. Später wurde daraus die Innere Führung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform. Die Entwicklung dieses Wesenskerns der Bundeswehr war sein wahrscheinlich größtes Verdienst. Damit sind die Stationen des zweifellos spannenden und außergewöhnlichen Lebenswegs eines der wichtigsten deutschen Generale der Nachkriegszeit keineswegs zu Ende erzählt. So füllte Baudissin noch weitere bedeutsame Funktionen aus, sei es als NATO-General oder als Universitätsgelehrter.
Doch der Reihe nach: Am 08. Mai 1907 wurde Wolf Stefan Traugott Graf von Baudissin in Trier als einziger Sohn eines preußischen Verwaltungsjuristen geboren. Seine Mutter war Tochter eines pommerschen Großgrundbesitzers. Kindheit und Jugend verbrachte Baudissin ostwärts der Elbe bzw. „im tiefsten Ostelbien“, wie er es selbst nannte. Damit war er ein Spross des protestantisch geprägten, preußischen Adels, der jahrhundertelang staatstragend war. Zeit seines Lebens verstand er diese Rolle aber nicht als aristokratisches Privileg, sondern als gesellschaftliche Verpflichtung, der natürlich auch ein gewisser Paternalismus innewohnte. Ob Baudissin sich selbst explizit als Angehöriger einer klassischen Elite verstand, kann abschließend nicht geklärt werden: Den Begriff selbst mied er Zeit seines Lebens. Nach dem Abitur 1925 trat Baudissin in die Fußstapfen seines Vaters und ging nach Berlin, um Jura zu studieren. Zusätzlich besuchte er auch Vorlesungen zu Geschichte und Nationalökonomie. Allerdings währte seine Zeit als Student im pulsierenden Berlin nicht allzu lange: 1926 ging er zur Reichswehr und trat in das traditionsreiche Infanterieregiment Nr. 9 zu Potsdam ein. Der Spitzname des Verbandes war „Graf 9“ und ist ein Verweis auf die zahlreichen Adeligen in seinen Reihen. Namhafte Vertreter des militärischen Widerstandes, wie etwa Henning von Tresckow, aber auch der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker waren Angehörige dieses Regimentes. Hier wurde Baudissin auf die Verfassung des deutschen Reiches vereidigt, denn die Reichswehr war die erste deutsche Armee, die versuchte, ihre Soldaten an eine demokratische Grundordnung zu binden. Ihr Scheitern dürfte Baudissin bei der Erarbeitung der Inneren Führung beeinflusst haben. Er gewann die Erkenntnis, dass es mit einem Eid allein nicht getan war, so lange viele Soldaten beim Ablegen desselben einen inneren Vorbehalt hegten. Baudissins Militärkarriere erfuhr aber zunächst ein jähes Ende. Ein Onkel wollte Baudissin adoptieren und ihm sein Gut vermachen.
Daher verließ der Graf die Reichswehr bereits am 30. September 1927 wieder und nahm ein landwirtschaftliches Studium in München auf. Da der Onkel das Gut allerdings verkaufte, was Baudissin aus der Zeitung erfuhr, brach er sein Studium erneut ab und ging wieder zur Reichswehr, wo ihm das Infanterieregiment Nr. 9 schließlich zur militärischen Heimat wurde. Aus diesen Episoden seines Lebens wird deutlich, dass der Offizierberuf für Baudissin keineswegs von Anfang an vorgezeichnet war. Dennoch nahm seine Laufbahn nunmehr eine eher geradlinige Richtung an. Er blieb dem Militär treu und wurde 1933 zum Leutnant, ein Jahr später zum Oberleutnant und zum 1. Januar 1939 zum Hauptmann befördert. Welche innere Haltung Baudissin in den 1930er Jahren zum Nationalsozialismus hatte, ist mangels Quellen nicht zu rekonstruieren. Er war jedoch ab 1934 als Ausbilder eines sogenannten Wehrertüchtigungslagers für angehende Richter und Staatsanwälte eingesetzt, die der Nationalsozialismus entsprechend seiner Weltanschauung prägen wollte. Nach dem Krieg wurde Baudissin im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens schriftlich bescheinigt, er habe bereits in dieser Zeit im Lager den Nationalsozialismus offen und aufs Schärfste abgelehnt und verurteilt. Die Ausstellung solcher Persilscheine war zwar nach Kriegsende gängige Praxis, in Baudissins Fall ist die kritische Einstellung gegenüber der NSNationalsozialismus-Ideologie allerdings glaubhaft. Ab 1938 war Baudissin Lehrgangsteilnehmer in der Generalstabsausbildung. Diese wurde unterbrochen, als das Reich 1939 Polen überfiel und damit den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Baudissin wurde vor dem regulärem Lehrgangsende in die Truppe versetzt und nahm als dritter Generalstabsoffizier, zuständig für die Feindlage, bei der 58. Infanteriedivision seinen Dienst auf. Im Frankreichfeldzug verdiente er sich das Eiserne Kreuz II. und I. Klasse, kurz danach wurde er zum Deutschen Afrikakorps versetzt. Hier geriet er am 4. April 1941 in britische Kriegsgefangenschaft. Über die Umstände seiner Gefangennahme ranken sich Mythen und nicht zuletzt auch implizite Vorwürfe.
Laut offiziellen Dokumenten der Deutschen Dienststelle in Berlin stürzte sein Flugzeug Heinkel He 111 ab und er wurde anschließend mit zwei weiteren Kameraden durch britische oder australische Soldaten gefangen genommen. Die beiden anderen Insassen des Flugzeuges, Pilot und Kommandant, sagten allerdings aus, dass Baudissin als ranghöchster Offizier eine Landung neben einer vermeintlich verbündeten Fahrzeugkolonne befohlen habe. Beide hätten zwar widersprochen, da es nicht klar gewesen sei, ob es sich tatsächlich um Verbündete handelte. Baudissin aber habe auf seinen Befehl bestanden. Hier schwang der Vorwurf mit, Baudissin hätte sich mit voller Absicht ausgeliefert und in Gefangenschaft begeben wollen. Dieser Vorwurf belastete den Grafen sehr. Es ist schwer vorstellbar, dass sich Baudissin mit Absicht in Gefangenschaft begeben hat. Sein protestantisches Ethos, sein preußisches Pflichtgefühl und sein Charakter sprachen dagegen. Aufzeichnungen aus dem Kriegsgefangenlager in Australien sind erhalten geblieben. Aus diesen wird deutlich, dass Baudissin durch das „Gefühl der Nutzlosigkeit“ in der Gefangenschaft geplagt wurde. Bis zum Jahre 1947 blieb Baudissin in australischer Kriegsgefangenschaft. Aus dem Lager heraus betrieb Baudissin nicht nur einen regen Briefwechsel mit seiner späteren Ehefrau, Dagmar Gräfin zu Dohna-Schlodien, der ihn moralisch über Wasser hielt, sondern gründete sogar eine Kriegsgefangenuniversität. Zudem gab er Kurse in Taktik. In dieser Zeit entsteht auch eine Denkschrift, in der er erörterte, ob sich Deutschland nach dem Kriege eher nach Moskau oder Washington orientieren sollte. Baudissin gab in seiner Analyse freilich einem westlichen Demokratiemodell für das Nachkriegsdeutschland den Vorzug, wenngleich die Studie seinerzeit keine politische Auswirkung hatte. Sie blieb unveröffentlicht.
Politische und schließlich auch historische Bedeutung erreichte Baudissins Leben erst mit seiner Teilnahme an der Konferenz in Himmerod.
Baudissin wurde durch seinen ehemaligen Regimentskameraden, Major a.D. von dem Bussche-Streithorst, eingeladen. Zunächst hatte Baudissin abgelehnt. Er wollte lieber mit seiner Frau in Selbstständigkeit dem Töpfergewerbe nachgehen. Jedenfalls beschrieb er diese Zeit später als glücklich und produktiv. Von dem Bussche-Streithorst konnte seinen Kameraden aber überzeugen. Baudissin war dabei nicht mal erste Wahl, eigentlich sollte Oberst i.G.im Generalstabsdienst a.D. Bogislaw von Bonin teilnehmen, der aber aus persönlichen Gründen verhindert war. Im Oktober 1950 wurde dann auf dem Eifelkloster in Himmerod unter höchster Geheimhaltung beraten, welche Voraussetzungen zu schaffen wären, um in Westdeutschland wieder Militär aufzubauen und dieses in ein westliches Verteidigungsbündnis zu integrieren. Baudissin beschäftige sich hier, zusammen mit weiteren ehemaligen Wehrmachtoffizieren, mit der inneren Verfasstheit der Truppe. Sie sollten Leitmotive und ethische Grundsätze für die zukünftigen deutschen Soldaten formulieren. Dabei war – so der Wortlaut der Denkschrift – etwas „grundsätzlich Neues“ zu schaffen und „mit überlebten Traditionen“ zu brechen. Die Soldaten sollten zukünftig auf das Grundgesetz vereidigt und damit an Recht und Gesetz gebunden werden. Darüber hinaus sollte Politische Bildung in die neue deutsche Armee als eigenes Ausbildungsgebiet eingeführt werden. Die alten Vorrechte der Offiziere, zum Beispiel das Burschenwesen, wurden in Frage gestellt. Zu jener Zeit waren diese Überlegungen revolutionär. Sie forderten, mit Gepflogenheiten zu brechen, die ein Großteil der Teilnehmer der Konferenz und auch viele Soldaten der ab 1955 aufgestellten Bundeswehr als bewahrungswürdig erachteten. Der damals von Veteranen aufgebaute und lange erhalten gebliebene Mythos von der sauberen, tapferen und unpolitischen Wehrmacht stand und steht im Widerspruch zur Inneren Führung. Denn Innere Führung verlangt auch „die innere Festigkeit gegen eine Zersetzung durch undemokratische Tendenzen“ – ganz gleich welcher Art.
Auf den Punkt gebracht heißt das: Mit der Wehrmacht war, unter anderem aufgrund fehlender innerer Korrektive, ein rasseideologischer Vernichtungskrieg möglich. Unbedingter Kadavergehorsam und blinde Führertreue waren dafür ebenso mitverantwortlich wie die ausgehebelte Bindung an das Kriegsvölkerrecht, besonders im Ostkrieg. So etwas sollte sich bei einer neuen deutschen Armee nicht wiederholen. Die Innere Führung war aber keineswegs ein rein ethisch-politisch orientiertes Projekt. Die konservativen Kritiker verspotteten sie als „Weiche Welle“ oder „inneres Gewürge“, weil sie annahmen, Innere Führung führte zur Verminderung des Kampfwertes der Truppe. Allerdings lehnten sie Baudissins Ansatz wohl vor allem deshalb ab, weil sie ihn gar nicht verstanden. Schließlich hatte auch Baudissin Kriegserfahrung und dachte den Staatsbürger in Uniform selbstverständlich als Kämpfer. Keineswegs war es in Baudissins Sinne, die Hierarchie in den Streitkräften in Frage zu stellen oder das Prinzip von Befehl und Gehorsam aufzuheben. Vermutlich wünschten sich einige Offiziere insgeheim, Baudissin würde scheitern, als er 1958 das Kommando über die Kampfgruppe C2 übernahm, aus der er die Panzergrenadierbrigade 4 formte und aufbaute. In seiner gut dreijährigen Dienstzeit als Brigadekommandeur bewährte er sich als Truppenführer und die Innere Führung als Leitprinzip. Baudissins erzieherisch erfolgreiches Wirken im Rahmen der Politischen Bildung attestierte ihm später der damalige Hauptmann Günther Kießling, der es wiederum in den 1980er Jahren bis zum Viersterne-General brachte. Aber nicht nur das, Kießling beschreibt Baudissin auch als „Meister der Taktik“. Es gelang ihm, seine Offiziere durch handwerkliches Geschick von seiner Kompetenz zu überzeugen, was nicht unterschätzt werden darf. Schließlich waren sowohl die Kompaniechefs als auch die Bataillonskommandeure der Brigade in der Regel hochdekoriert und ostfronterfahren. Neben seiner militärfachlichen Kompetenz fand aber auch sein Führungsstil Anerkennung. Baudissin war kein realitätsferner Träumer. Er forderte von seinen Untergebenen eine wirklichkeitsnahe und harte Ausbildung, um der Verantwortung gerecht zu werden, die Soldaten auf einen potentiellen Krieg gegen den Warschauer Pakt hinreichend vorzubereiten. Die angesprochene Härte forderte Baudissin nicht nur, sondern lebte sie auch vor. War eine seiner Kompanien beim Gefechtsschießen, kam er zur Dienstaufsicht und übernachtete im einfachen Zelt wie die übende Truppe – auch bei zweistelligen Minustemperaturen. Dabei ging es niemals um Härte als Selbstzweck, sondern um Härte aus Einsicht in die Notwendigkeit. Baudissins Schwerpunkt war – das wird aus den erhalten gebliebenen Brigadebefehlen deutlich – die Gefechtsausbildung. Der Kommandierende General des III. Korps war bei seiner Dienstaufsicht sogar überrascht ob der Länge und Intensität der Übungen. Beides fand aber seine volle Zustimmung. Auch Baudissins Divisionskommandeur war beeindruckt und bescheinigte ihm, ein fordernder Offizier zu sein, der selbst schwierigste Bataillone auf Vordermann brachte. Vor seiner Versetzung zur Kampfgruppe machten Gerüchte die Runde, Graf Baudissin sei der „Weichmacher der Bundeswehr“. Angesichts seiner Erfolge konnten sich diese allerdings nicht lange halten. Im Oktober 1961 wurde Baudissin dann zur NATO versetzt und blieb in internationalen Verwendungen. Eine Rückkehr in die Bundeswehr als Kommandeur blieb ihm versagt, obwohl er seine Brigade hervorragend führte. Vermutlich war er zu vielen kriegsgedienten Generalen und hochrangigen Offizieren nach wie vor ein Dorn im Auge – womöglich gerade wegen des Erfolgs in der Panzergrenadierbrigade 4. Mit der Konzeption der Inneren Führung war Baudissin seiner Zeit immerhin um gut 15 Jahre voraus. So nimmt es nicht wunder, dass sich die Innere Führung tatsächlich erst ab den 1970er Jahren gegen die letzten reaktionären Widerstände in der Bundeswehr endgültig durchsetzte. Zu dem Zeitpunkt war Baudissin bereits regulär aus den Streitkräften ausgeschieden.
Nach seiner Pensionierung 1967 wurde es aber keineswegs still um den General: Als Friedens- und Konfliktforscher arbeitete Baudissin am jungen Hamburger Institut für Friedensforschung, dessen Gründungsdirektor er war. 1968 erhielt er seinen ersten Lehrauftrag an der Universität Hamburg. Baudissin lehrte nach seiner aktiven Militärlaufbahn noch 18 Jahre im akademischen Betrieb, u.a. an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Hier gab er am 18. Juni 1986 seine Abschiedsvorlesung. Am 5. Juni 1993 starb Generalleutnant a.D. Professor Wolf Graf von Baudissin hochbetagt in Hamburg.
In der Rückschau auf das Lebenswerk Baudissins stechen ganz zweifellos seine Verdienste um die Einbindung der Bundeswehr in die freiheitlich-demokratische Grundordnung hervor. Baudissin hat sich spätestens seit Himmerod gegen die konservativ-traditionalistischen Bestrebungen im deutschen Militär positioniert. Er verstand als einer von wenigen, dass eine neue deutsche Armee nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so verfasst sein dürfte wie ihre Vorgängerin. Denn diese war es schließlich, die den deutschen Angriffs- und später auch Vernichtungskrieg im Rahmen des totalitären NSNationalsozialismus-Regimes ermöglichte, umsetzte und schließlich auch krachend verlor. Eine Armee in der Demokratie musste demnach ein anderes inneres Gefüge haben. Ein Gefüge, das die Soldaten als Staatsbürger in Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit verankert. Zugleich sollte es sie zu den schlagkräftigsten der Welt machen, weil sie ohne hohles Pathos aus Einsicht in die Notwendigkeit der Freiheit, auch ihrer eigenen, dienen und sie verteidigen. Dieses Konzept hat Baudissin nicht nur theoretisch erarbeitet, sondern als Brigadekommandeur auch umgesetzt und damit dessen Praxistauglichkeit gegen die Bedenken konservativer Spitzenmilitärs unter Beweis gestellt. Damit half er, den althergebrachten, scheinbaren Gegensatz von Demokratie und Militär in Deutschland aufzulösen.
Unsere heutigen Soldatinnen und Soldaten achten Hierarchien, befolgen verbindliche Befehle, können selbstverständlich kämpfen und sind trotzdem Demokraten – oder gerade deshalb. In der Gründungsphase glaubten aber keineswegs alle an die Funktionsfähigkeit dieses heute so erfolgreichen Konzepts. Der Vater der Inneren Führung hatte während seiner Laufbahn auch deshalb nicht immer einen leichten Stand. Seine letzten Verwendungen bei der NATO empfand er auch ein wenig als „Abschiebedienstposten“. Die höchste Verwendung des deutschen Militärs, das Amt des Generalsinspekteurs, auf das er sich gewisse Hoffnungen gemacht hatte, blieb ihm verwehrt. Dennoch ist seine historische Bedeutung unbestritten. Sie war bereits den Zeitgenossen offenkundig: Der erste Kommandeur der Schule für Innere Führung, Oberst Artur Weber, prognostizierte 1958, dass man in der Zukunft beim Verfassen der Geschichte des Aufbaus der Bundeswehr an Baudissin nicht vorbeikommen werde. Damit sollte er Recht behalten. Daher verwundert es auch nicht, dass Wolf Graf von Baudissin zur Tradition der Bundeswehr gehört. Die Kaserne in Hamburg, in der die Führungsakademie der Bundeswehr untergebracht ist, trägt konsequenterweise seinen Namen. Die Führungsakademie ist die höchste militärische Bildungseinrichtung Deutschlands. In ihr befindet sich ein Dokumentationszentrum, in dem sich die zahlreichen Lehrgangsteilnehmenden, das Stammpersonal und Besucher mit Baudissins Leben und Werk anhand seines Nachlasses auseinandersetzen können. Heute erinnern wir Baudissin als intellektuellen Vordenker, Wegbereiter der demokratischen Verfasstheit der Bundeswehr und erfolgreichen Truppenführer. Damit stiftet seine Arbeit Sinn für die Zukunft und verwirklicht ein Traditionsverständnis, das über die unreflektierte Reproduktion der Vergangenheit hinausgeht. Oder, um es mit Baudissin selbst zu sagen: „Traditionen sind nicht Selbstzweck noch Ornament; mit ihrem Angebot an beispielhaften Haltungen und Erfahrungen aus der Vergangenheit helfen sie, die Aufgaben von heute zu lösen.“
Das war „Angelesen.“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, heute zum Buch von „Wolf Graf v. Baudissin. 1907 – 1993. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung“, erschienen 2007 im Oldenbourg-Verlag.