Annexion der Krim-Transkript

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30 MIN

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Herr Gutzeit: Liebe Hörerinnen und Hörer! Herzlich willkommen zu unserer „Zugehört!“ Folge „Zehn Jahre Krim-Annexion“. Mein Name ist Michael Gutzeit, ich bin Major und Leiter der Informationsarbeit. Vor genau zehn Jahren annektierte Putin oder Russland die ukrainische Krim und setzte damit einen Startschuss eines Konfliktes, eines Krieges, der vor zwei Jahren seinen Höhepunkt mit dem russischen Angriffskrieg und Vollinvasion gefunden hat. Heute werden wir uns anschauen, was passierte vor zehn Jahren auf der ukrainischen Krim, welche Hintergründe, welche Folgen hat dieser Konflikt bis heute? Heutiger Studiogast ist Doktor Tim Geiger aus dem Institut für Zeitgeschichte in Berlin und dem Standort Auswärtiges Amt. Herr Doktor Geiger, können Sie sich vielleicht ein bisschen genauer vorstellen?
Herr Geiger: Ja, vielen Dank, Herr Gutzeit, sehr gerne. Ich bin Historiker am Institut für Zeitgeschichte, das den Hauptsitz in München hat. Es hat allerdings auch zwei Berliner Dependancen, davon eine im Auswärtigen Amt, die sich im Auftrag des Auswärtigen Amts um die Edition der Akten zur Bundesrepublik kümmert. Und da bin ich seit 2005 tätig.
Herr Gutzeit: Herr Geiger, können Sie uns einen Überblick über den Verlauf der russischen Krim-Annexion geben?
Herr Geiger: Die Krimkrise hat natürlich, wie alles in der Geschichte, einen gewissen Vorlauf. Es gibt den kurzfristigen Ablauf. Ende des Monats Februar, am 27. Februar 2014, tauchten auf der ukrainischen Krim, die Teil des ukrainischen Staatsgebietes war und ist, die sogenannten „grünen Männchen“ auf. Das ist ein schöner Ausdruck, weil sie gewissermaßen wie aus dem Nichts erschienen, wie Außerirdische, grüne Uniformen trugen und vor allem: Sie haben entgegen den internationalen Vorschrift Haager Landkriegsordnung, die die Kennzeichnung von Militär vorsieht, keine Hoheitszeichen getragen. Und trotzdem war jedem Verständnis von Anfang an klar, auch wenn dass die russische Führung zunächst vehement abstritt, dass es russische Soldaten waren. Die wichtigen Standpunkte der ukrainischen Verwaltung, Stadtverwaltungen, Radio, Rundfunk, Militär, Polizeistationen besetzt haben und die dortigen ukrainischen Beamten eingekesselt haben, gewissermaßen. Und vor allem in Simferopol, der Republik Krim, wie es genau heißt, das Parlament besetzt haben und dort unter den Gewehrläufen, eben dieser grünen Männchen wurde eine Abstimmung durchgeführt, in der die bisherige Regierung abgesetzt wurde. Eine neue russlandfreundliche, eine russische Splitterpartei, die davor wenige Prozentpunkte bei Wahlen erhalten, hatte, einen neuer Ministerpräsident einbestellt, der auch sehr bald, Anfang März, schon Russland um militärischen Schutz bat und ankündigte, ein Referendum über die Zugehörigkeit der Krim zu Russland durchzuführen. Dieses Referendum war zunächst auf Mai terminiert. Auf den Tag der ukrainischen Präsidentschaftswahlen und wurde dann sukzessive vorgezogen. Auf den 16 März 2014. Es gab nur zwei Referendums Fragen. Nämlich erstens sind sie für den Anschluss der Krim und den Beitritt zur Russländischen Föderation oder sind Sie für eine Rückkehr zur Verfassung der Krim, einer unabhängigen Krim von 1992? Auch da müsste man kurz zurückblenden. Die Krim war schon immer strittig. Sprechen wir sicher noch mal darüber, denn das bedarf einer längeren Einordnung. Aber 1992 war ein Autonomiestatut für die Krim verabschiedet worden, die innerhalb der Krim aber abgelehnt wurde und sie eine eigene Verfassung verkündet haben, die allerdings nicht in Kraft gesetzt wurde. Und zu der hätte nach der Referendums Frage zurückgekehrt werden sollen, also auch ein unklarer Status wurde aber gar nicht relevant, denn es war unter diesen Bedingungen: militärische Besatzung, klare Druckausübung, klare Drohkulisse und eine Bevölkerung, und da sprechen wir sicher auch noch mal gleich darüber, die auf der Krim mehrheitlich russischsprachige und russisch ist, ziemlich eindeutig, dass das von Putin und den russischen Besatzern gewünschte Ergebnis herauskam, nämlich circa 96 % Ja-Stimmen und nur wenige Stimmen, die für einen Verbleib bei der Ukraine stimmten. Von diesem Referendum, dem Wunsch des Volkes, da reklamiert Putin dann der Selbstbestimmung der Völker, die er dem Westen gerne immer sonst vorhält, dass der Westen dieses hochhalte. Mit diesem Argument des Referendumsergebnis fand zwei Tage später der Beitritt der Krim als neues Subjekt zusammen mit dem Schwarzmeerflotte Hafen Sewastopol in die Russländische Föderation statt, die endgültig am 20 Mai vollzogen war. Das ist gewissermaßen der Abschluss der russischen Annexion der Krim.
Herr Gutzeit: Aber vielleicht sollten wir an dieser Stelle noch mal zurückblenden und auf die tieferen Ursachen blicken.
Herr Geiger: Es war so, dass die Ukraine, die schon seit langem ein Land war, das von Korruption und schweren Wirtschaftskrisen immer gebeutelt war, eine Politik zwischen ihren mächtigen Nachbarn gewissermaßen führen musste. Auf der einen Seite Russland, auf der anderen Seite die Europäische Union, zu der sich die Ukraine eben durchaus auch zugehörig fühlen, zu den Teil eines Europas wie Russland, das ja auch immer für sich reklamiert. Aber diese Multi-Vektor Politik, also dieser Schaukelkurs zwischen einerseits an Russland orientiert, andererseits an Europa, kam eigentlich Ende 2013 zum Ende. Da baute Russland nämlich eine massive Drohkulisse schon damals auf, um den Beitritt der Ukraine zur geplanten Eurasischen Wirtschaftsunion zu erzwingen und damit gleichzeitig eine Ablehnung, dass fertig ausgehandelt und unterschriftsreifen Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, der aus dem Osten der Ukraine, die immer orthodox auch eher russischsprachig und eher Russland orientiert war. Der dortige Präsident Viktor Janukowitsch von der Partei der Regionen zog, auf Putins Wunsch gemäß, seine angekündigte Unterschrift unter das EU Assoziierungsabkommen zurück, verweigert die Unterschrift also und das löst umgehend in Kiew Protest aus. Auf dem Hauptplatz in Kiew, auf dem Maidan, der wegen dieser proeuropäischen Proteste dann schnell das Schlagwort Euromaidan erhält. Und diese Protestbewegung kriegt eine Eigendynamik, entwickelt sich sehr schnell auch zu einem Protest gegen die grassierende Korruption und gegen das System Janukowitsch, der eben sehr stark Russland orientiert war, und hält wochenlang in Eiseskälte durch. Allerdings eskalieren die Proteste auch zunehmen zwischen den Spezialtruppen des Innenministeriums und den Sonderkräften der Polizei. Es gibt Tote, es gibt Verwundete, und die Situation ist wirklich da schon vor der Explosion, gewissermaßen im Februar 2013. Und da gelingt es in einer Vermittlungsaktion, an der der heutige Bundespräsident Steinmeier, als damaliger Außenminister, sein französischer Kollege Fabius und der auch heute wieder polnische Außenminister, damals auch, Sikorski zusammen nach Kiew reisen und gewissermaßen eine Vermittlungsaktion starten. Und da wird die Nacht durch verhandelt. Es gelingt einen Kompromiss zwischen den Protestkräften des Maidan und der Regierung Janukowitsch auszuhandeln, die eine Übergangsregierung, Neuwahlen vorsieht. Allerdings ist dieses Ergebnis schon innerhalb weniger Stunden hinfällig, weil Janukowitsch außer Landes flieht. Am 21. Februar 2013. Und in Russland dies extreme Ängste hervorruft beim Regime Putin. Denn ein durch Massenbewegung hervorgerufene Regierungswechsel gab praktisch auch Leben von Demokratie. Insgesamt empfindet das, dass autoritäre Putin Regime als eine fundamentale Bedrohung und gewissermaßen diesen Wechsel als Menetekel an der Wand, den es unbedingt zu revidieren gilt.
Herr Gutzeit: Wie reagierte Putin auf dieses Menetekel? Wie sah seine Reaktion und seine Revision aus?
Herr Geiger: Die neue Umsturzregierung, die gebildet wird, denn am Folgetag wird der geflohene Präsident Janukowitsch als abgesetzt erklärt und eine neue provisorische Regierung gebildet. Die wird als ein Putschregime gekennzeichnet, als ein Regime von Extremisten, von Nationalisten, von Faschisten. Und da wird das ganze Repertoire, das eben aus der alten Sowjetzeit abrufbar ist, vom Großen Vaterländischen Krieg, der Kampf gegen die Faschisten und ihre Verbündeten, die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung der 40er Jahre unter Stepan Bandera, deshalb immer der Beschreibung als Nazis und Banderistas, dass also auch noch den Banditen Begriff mit bei hat, die wurde sofort an die Wand gemalt, so dass auch tatsächlich gegen diesen Regierungswechseln auf der Krim sehr früh Proteste einsetzten. Die Krim gehört seit 1954 offiziell zur Ukrainischen Sozialistischen Republik. Da kommen wir vielleicht gleich noch mal drauf. Aber seit 1991 war die Krim mit Unabhängigkeit der Ukraine, Teil der Ukraine, obwohl sie primär Russisch von ethnischen Russen besiedelt ist.
Herr Gutzeit: Mal abgesehen von der russischen Propaganda. Wie haben denn westliche Medien auf die Annexion der Krim reagiert?
Herr Geiger: Die russischen Medien waren ja praktisch auf eine Kampagne eingestellt. Der Umsturz, der Regierungswechsel in Kiew wird eben schwarzgemalt und perhorresziert als wirklich eine Machtergreifung von Extremisten, die russophob wären, die Nazis wären, die Antisemiten sein, schlicht eine gefährliche Crew, die dort die Macht ergriffen habe in einer illegalen Aktion. Und entsprechend wird auch betont, dass die russischsprachige Bevölkerung, die Russen und alle Russenfreunde in der Ukraine in Gefahr seien. Es würden ihnen Verfolgung und Unterdrückung drohen. Auch der orthodoxen Kirche. All das wird in Dauerschleife über die russischen Sender gesendet und von Medien verbreitet. Entsprechend, dort auch die Bevölkerung auf der Krim eingestimmt und vorbereitet. Insofern wenn Sie die Bilder anschauen von den grünen Männchen, ich nenne sie jetzt weiter so, also den ungekennzeichneten Soldaten, die auftauchen, da gibt es wenig Protest. Vor allem nicht von der russischsprachigen Bevölkerung, sondern die werden praktisch einfach relativ negiert und wahrgenommen. Und das Problem von westlichen Medien war, dass diese grünen Männchen offiziell Weisung gehabt haben, nicht zu reagieren. Natürlich konnte man ihnen trotzdem rauskitzeln das, was jeder ohnehin eigentlich vermutet hat, aber offiziell nicht bestätigt werden konnte, dass es russische Soldaten sind, die einerseits von der in Sewastopol durch Verträge stationierten Schwarzmeerflotte, Armeeangehörige der Schwarzmeerflotte, die dann praktisch außerhalb des ihnen zustehenden Gebietes aufgetaucht sind und vor allem dann Spezialkräfte, des Militärgeheimdienst der russischen Armee, die eben für solche Kommandoaktion ausgebildet waren, aber eben bewusst ihre Hoheitszeichen verschleiert haben. Insofern im Westen wird das genannt, aber man erkennt die Dramatik, die dahintersteht und auch die Absicht, ja noch nicht sogleich. Also insofern ist es ein gewisser medialer Unterschied.
Herr Gutzeit: Wenn es um die Absicht geht. Sie haben gesagt, dass Russland gegen die Putschisten in Kiew vorgehen will und die Krim zu beanspruchen, vielleicht auch sogar zu retten vor diesem Putsch. Aber was waren die eigentlichen russischen Hauptursachen, die Krim jetzt zu annektieren?
Herr Geiger: Als Historiker kann man immer unterscheiden zwischen kurzfristigen Anlässen und eben längeren Ursachen. Und da muss man vielleicht zunächst beginnen mit den längeren Ursachen. Nämlich auch die Bedeutung der Krim für das russische Geschichts- und Selbstverständnis. In dem russischen Narrativ ist die Krim ur-russische Erde, das sagt Putin. Alles hier spricht von unserer Geschichte und unserem Ruhm in seiner Annexionsrede gewissermaßen. Er geht zurück, selbst auf den Großfürsten der Rus, Wladimir, der auf der Krim getauft sein soll. Das ist eher umstritten. Es war vermutlich eher im Dnepr im Kiew selbst. Aber er bezeichnet die Krim sogar einmal als den Tempelberg der Russen. Die Bedeutung des Tempelbergs wie für Israel, hätte die Krim für Russland. Und das hängt weniger zusammen damit, dass die Krim ein sehr beliebtes Urlaubsziel aus Sowjetzeiten war, wo gewissermaßen Leute der Nomenklatura ,wie der einfachen Werktätigen, Erholung gesucht haben, in einem sehr angenehmen, südländisch exotischen Klima. Es gibt es zahlreiche Beispiele auch der Prominenz. Gorbatschow machte Urlaub auf der Krim 1991, als in Moskau der Putsch gegen ihn begann. Breschnew führte Brandt 1970 nach Oleander neben Jalta, um ihm die Schönheiten der Krim zu zeigen und in gelöster Atmosphäre mit ihm über die Ostpolitik zu sprechen. Auch ist letztlich Jalta das Schlagwort, das vor allem in Osteuropa für die Teilung der Welt stand, also die Jalta Konferenz vom Februar 45, fand eben auch auf der Krim statt. Was die Krim im russischen Gedächtnis allerdings so besonders macht, ist ihre militärische Bedeutung insbesondere festgemacht an Sewastopol, das zweimal im Krimkrieg das 19. Jahrhunderts der 1850er Jahre belagert wurde und am Ende nach sehr blutigen Belagerungen eingenommen wurde, aber die Heldenstadt sich eben lange gewehrt hatte. Und das Ganze wiederholt sich im Zweiten Weltkrieg, dem Großen Vaterländischen Krieg, wo eben die Festung Sewastopol sehr lange dem deutschen Ansturm standgehalten hat. Und insofern wird die Krim, die eigentlich erst 1783 unter Katharina der Großen in das russische Reich eingegliedert wurde, als ur-russisch bezeichnet. Obwohl die Krim eine sehr gemischte Geschichte hat. Über die Krim hat Russland allerdings Teil an der griechischen Antike. Die Krim war griechisch besiedelt. Über das Skythen Gold, das jetzt auch wieder umstritten ist, was auf Auslands Exkursion war, als die Krim überfallen wurde. Wem gehört es nun Russland oder der Ukraine? Das ist eine offene Frage, aber da gewissermaßen in der Krim Belagerung mit genuesischen Städtern, marschierte damals von dort aus die Pest nach Europa 1348. All das zeigt, dass die Krim also eigentlich durchaus auch Teil der größeren europäischen Geschichte ist. Aber für Russland ist eben das Besondere dieser militärische bedeutsame Schlachterinnerungsort. Und gefühlt die Krim ur-russisch. Vielleicht auch noch mal ergänzend die Krim war bei der Entstehung der Sowjetunion, 1922 ein autonomes Gebiet, das allerdings zur Russländischen Sozialistischen Föderation gehörte. Aber das ändert sich 1954. 1954 verkündete der sowjetische Parteichef, Chef der KPdSU, Nikita Chruschtschow, anlässlich eines dreihundertsten des Vertrags von Perejaslaw, der damals ein Bündnis der Saporoger Kosaken mit dem zaristischen Reich besiegelte und der verklärt wurde, praktisch für ein Dauerbündnis zwischen Ukrainern und Russen. Zu diesem Anlass schenkt Nikita Chruschtschow der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik die Krim und gliedert sie damit von Russland aus. Putin reklamiert immer, die Menschen wurden nicht befragt. Das ist auch vollkommen richtig. Die Menschen wurden damals nicht befragt. Aber es spielte, auch das erwähnt Putin in seiner Rede durchaus zutreffend, damals auch keine Rolle, denn es blieb ja der gleiche Einheitsstaat von Sowjetmenschen und hatte einfach damals ökonomisch praktische Vorteile. Denn die Krim ist ein sehr wasserarmes, süßwasser-, trinkwasserarmes Gebiet, trotz ihres sonstigen Wasserreichtums als Badeparadies. Und wurde also von der Wasserversorgung von der benachbarten Ukraine versorgt. Das ist durch den Nord Krim Kanal dann in den 60 er Jahren auch ausgebaut worden und insofern hatte es einfach ökonomisch verwaltungstechnische Vorteile, die Krim der Ukraine zuzuschlagen. Wie gesagt, dass spielte keine Bedeutung bis 1991, als für alle relativ überraschend damals empfunden, die Sowjetunion endgültig auseinanderbricht und vorige Verwaltungsgrenzen nun internationale Staatsgrenzen werden.
Von dem her trifft zu, dass die Krim eigentlich seit 1991, seit Beginn der Unabhängigkeit Russlands und der Ukraine, ein Zankapfel zwischen beiden Ländern war. Sehr früh stellt die russische Duma, noch beherrscht von den alten Kräften, in Frage, ob diese Schenkung überhaupt rechtens war. Eine Frage, die Putin natürlich 2014 sofort auch wieder aufs Tablett bringt und sagt: Es war illegal, dieser Transfer. Und es spielte wie gesagt, zunächst keine Rolle. Aber jetzt spielt es eine Rolle, denn die Krim, in der es eine Bevölkerungsmehrheit der Russen gibt, in der Zwischenzeit, war eben nicht mehr Teil von Russland. Und dass es diese Bevölkerungsmehrheit der Russen gibt, hängt nicht zuletzt, auch das sollte nicht unerwähnt bleiben, durchaus auch mit den Deutschen zusammen. Die ja im Zweiten Weltkrieg zu einer ethnischen Entmischung der Krim, die damals eben sehr multinational war und multiethnisch war, massiv beigetragen haben. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Juden wurde auch auf der Krim praktiziert. Nach der Befreiung der Krim durch die Roten Armee 1944 vertreibt Stalin umgekehrt sämtliche Krimtataren. Sie werden deportiert, typisch in stalinistischer Manier, weil sie eben der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt werden. Und die Krimtataren dürfen auch wirklich erst in den Neunzigern zurückkehren, was natürlich massive, auch wirtschaftliche Konflikte und soziale Konflikte auslöst. Die kehren zurück und sagen, ursprünglich gehört das Land uns, aber das sind jetzt russische Neusiedler. Das führt zu Spannungen und eben dann weitere Vertreibungen im Umfeld des Zweiten Weltkriegs. Auch Griechen, Armenier werden praktisch beseitigt und dafür kommen slawische Neusiedler, vor allem eben aus Russland.
Herr Gutzeit: Wir haben jetzt viel über die russische Bedeutung der Krim gesprochen. Manchmal höre ich, wenn es um die Rechtfertigung der Krim-Annexion geht, das Argument, es ist rechtens gewesen, denn die NATO hat sie ja zum Beispiel auch nach Ende des Kalten Krieges Richtung Osten erweitert, also hat Russland auch das Recht, sich Richtung Westen zu erweitern und die Krim für sich zu beanspruchen. Wird das eigentlich von Russland auch als Argument offiziell aufgeführt?
Herr Geiger: Ja, dieses hanebüchene Argument wird auch von Russland gerne aufgeführt. Es kommt eigentlich regelmäßig vor. Lesen Sie sich die Reden von Putin, durch die er anlässlich der Krim-Annexion hält. Vor allem aber jetzt im Vorfeld der Vollinvasion der Ukraine 2022, da spielt die NATO Osterweiterung eine wirklich zentrale Rolle in Putins Narrativ. Eine Bedrohung, eine Isolierung, ein in die Ecke Treiben Russlands durch eine aggressiv expandierende NATO. Und da ist auch immer dieses Stichwort vom Wortbruch in der Luft. Putin zitiert da immer und das ist sehr typisch für die russische Narrative. Es werden einzelne Quellen Funde völlig aus dem Kontext gelöst, rausgerissen, verabsolutiert und als das Argument für das eigene Narrativ aufgeführt. Was also eine Art, die, während Historiker eben auf die Kontextualisierung von Quellen schauen und den Zusammenhang auch die Zeitgebundenheit und den größeren Kontext beschreiben, macht Putin also reine Geschichtspolitik, keine Geschichtswissenschaft. Und insofern ist es durchaus wichtig, sich der Frage der NATO Osterweiterung noch mal dezidiert zu widmen. Da könnte man einen eigenen Podcast auch drüber machen. Ich versuche mich mal kurz zu fassen. Weil Putin tatsächlich immer vorbringt, die NATO hätte ihr Versprechen gebrochen. Man muss sagen, es gab dieses Versprechen in einer schriftlichen Form nicht. Er bezieht sich insbesondere auf ein Gespräch des amerikanischen Außenministers Baker mit Gorbatschow im Kreml vom Februar 1990. Also einer Phase, als die deutsche Frage noch sehr, sehr volatil ist und verschiedene Denkmuster durchgespielt werden. Die Amerikaner hatten von Anfang an gesagt, sie unterstützen die deutsche Einheit allerdings als Vorbedingung gemacht, dass das gesamte Deutschland soll innerhalb der NATO bleiben. Eine Vorstellung, die den Sowjets natürlich extrem schwerfiel. Und Baker stellt Gorbatschow die Fragen. Und es geht wohlgemerkt um einen möglichen NATO Beitritt der DDRDeutsche Demokratische Republik, nicht um weitere Gebiete, zu diesem Zeitpunkt. Da darstellt Baker Gorbatschow die rhetorische Frage, was denn aus sowjetischer Sicht besser wäre, ein frei in der Luft schwebendes Deutschland, das möglicherweise sich auch eines Tages nuklear bewaffnen könnte und praktisch unkontrolliert durch die Gegend schwebt oder eben ein Deutschland, das fest in westliche Strukturen wie die EGEuropäische Gemeinschaft und die NATO eingebunden ist. Und da kommt eben das alte Motto, dass die NATO durchaus auch der Kontrolle der deutschen Bedrohung diente, wieder hoch. Und Gorbatschow beantwortet die Frage damals eigentlich noch nicht genau, aber hier fällt diese Formulierung von „Not one inch eastward“ Also nicht einen Zoll nach Osten würde sich die NATO weiter ausdehnen, wenn die DDRDeutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik beitritt. Es gibt auch zahlreiche Äußerungen von Hans Dietrich Genscher, der eben ganz ähnlich argumentiert hat. Genscher vergaloppiert sich auch und sagt sogar das gilt ganz generell. Das entspricht sehr dem russischen Narrativ, dass also ganz generell die NATO nicht erweitert werden dürfe. Aber er wird da auch sehr schnell wieder eingenordet von Bundeskanzler Kohl. Auch USUnited States Präsident Bush macht von Anfang an klar, dass er sich auf solche Deals nicht einlassen würde. Und es widerspricht vor allem fundamental den sonst von Bonn so hochgehaltenen Prinzipien der selbst des Selbstbestimmungsrechts und der KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) Prinzipien, die eben auch, festgelegt in der KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) Schlussakte von Helsinki, die von 1974 stammt und eben auch der UdSSRUnion der Sozialistischen Sowjetrepubliken unterschrieben wurde, dass jedes Land frei ist, seine Bündnis Zugehörigkeit selbst zu wählen. Insofern kann ein deutscher Außenminister, so gewichtig er auch sein mag nicht entscheiden über das Schicksal von Ungarn, von Polen oder von der Tschechoslowakei. Und man muss sagen sowohl Baker als auch Genscher sind nicht die Regierungschefs. Sie sind nur eine, durchaus wichtige, Stimme im westlichen Lager. Als Historiker sieht man die langen Linien und weiß es ist der Beginn eines Verhandlungsprozesses Eine mündliche Zusage, über deren Stellenwert wir durchaus reden können aber es ist eine mündliche Zusage und die Russen und die Sowjets waren immer so weit Profis, dass sie wussten, was zählt, sind nachher die schriftlichen Vereinbarungen, und da steht das eben nicht drin. Auch Versuche der Sowjetunion, nach der Auflösung des Warschauer Paktes noch 1991 in bilateralen Verträgen mit ihren einstigen Verbündeten, mit Ungarn, mit der Tschechoslowakei oder mit Polen Klauseln einzubauen in den neu ausgehandelten Verträge, die eben den Beitritt zu Allianzen ausschließen sollte, die möglicherweise einem Bündnispartner feindlich gegenüberstehen werden, kommen nicht zustande. Auch da haben sie sozusagen einen schriftlichen Ausschluss nicht erreicht. Den gab es eben nie. Und bezeichnenderweise ist das Russland die Sowjetunion immer klar eine Erweiterung der NATO um neue Mitglieder als tendenziell feindlichen Akt empfunden hat. Jelzin hat einen polternden Auftritt Ende 1994 beim Budapester KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) Gipfel, wo er sagt, die NATO Erweiterung droht Europa in einen kalten Frieden zu stürzen. Und ein Jahr zuvor schreibt er im September 1993 an verschiedene westliche Regierungschefs. Das Schreiben ist bereits veröffentlicht, wird auch veröffentlicht werden. Nochmals in dem Band meiner Kollegen der Akten Edition 1993, aber eben auch in der amerikanischen Fassung bereits im Internet nachlesbar, schreibt Jelzin an die westlichen Regierungschefs eine Osterweiterung, die im Raum steht durch Erweiterung damals eher um die Visegrádstaaten, würde gegen den Geist der Verträge von 1990 stoßen. Und da ist die Bezeichnung eben sehr sprechend. Es soll nur der Geist sein, weil sie es eben nicht am Wortlaut von vertraglichen Bestimmungen festmachen können. Und was Putin und die russischen Narrative auch komplett ausblenden, ist, dass die NATO eben praktisch nicht bewusst vorangetrieben hat, sondern es war der explizite Wunsch und der Wille der Mittelosteuropa Staaten in die NATO beizutreten. Da steht im Hintergrund, dass die eben aufgrund ihrer eigenen historischen Erfahrungen dem russischen Nachbarn tatsächlich immer misstraut haben. Insofern ist das russische Verständnis, dass es gegen sie gerichtet ist, auch nicht vollkommen falsch. Aber die NATO hat natürlich bemüht, ein partnerschaftliches Verhältnis, auch ein kooperatives Verhältnis zu Russland aufzubauen und hat es eigentlich auch sehr erfolgreich betrieben. Es gibt aus den neunzigernthem an gemeinsame Friedensmissionen, beispielsweise bei der IFORImplementation Force auf dem Balkan.
Da gibt es schöne Bilder, wo der russische und der amerikanische Verteidigungsminister zusammen im NATO Hauptquartier sind, unter einem großen Plakat und wo dransteht: Russia + NATO = Success. Da funktioniert die zusammen Arbeit auch. Und vor allem erhält Russland Kooperationsangebote neben der Partnerschaft für den Frieden, die die Russen aber immer als nicht ausreichend empfunden haben, denn sie wollen nicht irgendein Land sein, sie wollen ein spezielles Land sein. Und da kommt eben die Bedeutung, dass Russland nach wie vor ein imperiales Verständnis hat von Einflusszonen, die eben der eigentlich in den grundlegenden Beziehungen von der Gleichheit der Staaten fundamental widerspricht. Die NATO Russland Akte von 1997 sollte man vielleicht auch noch erwähnen zumindest. Das war nämlich auch ein Kooperationsangebot, das zunächst erfolgreich praktiziert wird. Und übrigens gibt's, das blendet Putin eher gerne aus, auch immer wieder Überlegungen, ob die NATO nicht auch Russland offenstehen könnte. Es ist immer taktisch gemeint gewesen, allerdings gerade auch wenn es von russischer Seite vorgebracht wird. Gorbatschow sinniert darüber schon 1990, wird aber dann mit dem Argument gewissermaßen sofort zum Schweigen gebracht, ob denn sowjetische Armeechefs einem NATO Kommandeur unterstehen wollen. Also es war eher die Überlegung „If you can't beat them, join them“ 1990also Beitritt, um praktisch von innen her die NATO unregierbar zu machen und zu transformieren in eine Art übererweiterte KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), die den Russen eigentlich natürlich immer wichtiger und lieber war als die NATO, schon aus deren Entstehungsgeschichte heraus.
Herr Gutzeit: Interessant, dass Sie Budapest und das Jahr 1994 angesprochen haben. Denn beim sogenannten Budapester Memorandum verspricht ja Russland noch die territoriale Unversehrtheit der Ukraine. Denn die Ukraine gab ja dort auch ihre Atomwaffen an Russland ab. Wir haben jetzt viel über die Bedeutung der Krim in der Diplomatie und in den Verträgen gesprochen. Wenn wir auf den heutigen Krieg in der Ukraine gucken und die militärische Bedeutung der Krim. Können Sie die nochmal genauer erläutern?
Herr Geiger: Die Krim war schon immer militärisch ein bedeutsames Gebiet und sie war vor allem immer der Hafen der Schwarzmeerflotte, die auch im russischen Gedächtnis oder eben auch tatsächlich militärisch eine Funktion und eine Bedeutung hatte. Und heute ist gewissermaßen die Krim die Basis, über die der russische Nachschub, die Material Versorgung, die Munitionsversorgung für den jetzigen Vollangriff auf die Ukraine läuft. Die Krim wurde nach 2014 massiv militarisiert und aufgebaut. Heute ist sie ein hoch militarisiert Gebiet und ganz zentral war in dem Zusammenhang eben die Landverbindung, gewissermaßen die Versorgung. Die Krim hat ja keine direkte Landverbindung zum sonstigen russischen Staat und da wurde die Kertsch Brücke, die Putin aus dem Grund auch persönlich eingeweiht hat, 2018 für den Straßenverkehr 2019 für den Eisenbahnverkehr, über den tatsächlich eben viel jetzt auch vom Materialnachschub rollt und die deshalb eigentlich ein militärisches Ziel für die Ukraine ist. Da kommt man dann in die ganze Taurus Diskussion rein. Aber eben die Krim ermöglicht und verstärkt die Kontrolle für die Schwarzmeer Region insgesamt, die ja eine Krisenregion überhaupt ist. Da gibt es auch in Georgien, den Konflikt mit den von ebenfalls von Russland geförderten separatistischen Ja, Staaten, wie sie sich jetzt nennen, eigentlich gebieten, die zu Georgien gehören, Abchasien und Südossetien. Es gibt in Moldau den Konflikt seit 1992 von Anbeginn mit Transnistrien. Also es ist eine Konfliktregion, an der Russland, der weiche Unterleib der Sowjetunion hieß es auch damals, früher schon, natürlich immer ein massives, auch militärisches Interesse hat.
Herr Gutzeit: Wenn wir über das militärische Interesse Russlands sprechen, fällt mir auf, dass wir nach dem Referendum auf der Krim noch nicht über die Ostukraine 2014 gesprochen haben. Wie ist denn Putin dort vorgegangen?
Herr Geiger: Der Krieg in der Ukraine beginnt 2014 und nicht mit der Invasion der Russen 2022. Das ist eine Tatsache, die im Westen eben auch leider lange eigentlich ausgeblendet wurde. Denn Protest gab es nicht nur im Süden auf der russisch dominierten oder russisch-ethnisch dominierten Krim, sondern auch im stark immer auf Russland ausgerichtet auch stark russischsprachigen orthodoxen Osten der Ukraine, insbesondere eben in den Schwerindustriegebieten des Donbass, in Donezk und Luhansk. Da sitzen tatsächlich auch Milizen der Art, sich gegen die neue Regierung, prowestliche Regierung, proeuropäische Regierung in Kiew eigentlich distanzieren und mit separatistischen Tendenzen bewaffnen. Da gibt es auch militärische Konflikte. Das Ganze eskaliert. Die Ukraine ist tatsächlich zunächst mal die ukrainischen Behörden in einem Zustand eigentlich der kompletten Desorientierung und sind unvorbereitet und brauchen auch sehr lange. Machen dann erst im Sommer eine Art militärische Gegenoffensive, die auch zunächst erfolgreich ist, bis dann ziemlich offen russische Streitkräfte, auch die Wagner Söldner dann auf Seiten der Separatisten eingreifen. Und seitdem ist der Osten der Ukraine Kriegsgebiet, was im Westen kaum wahrgenommen wurde, obwohl es über 10000 Tote bis 2022 dort gab. Eine der wenigen Highlights, wo es wahrgenommen wurde, ist der Abschuss der malaysischen Fluglinie MH17 im Juli mit über 280 Toten. Das ist so ein Flashlight und sonst wird es weitgehend ausgeblendet, gerade auch in Deutschland. Vielleicht mit der Ausnahme, als der jetzige Vizekanzler und damalige grünen Vorsitzende Robert Habeck in die Ukraine reiste und mit dem für viele völlig überraschend und dann sehr schnell nieder gemachten Vorschlag kam, vielleicht wäre es doch notwendig, der Ukraine defensiv Waffen zu liefern, was ja auch vehement abgelehnt wurde.
Herr Gutzeit: Können Sie noch was zu der Schaffung der sogenannten Separatisten Republiken Luhansk und Donezk sagen? Weil anders als die Krim, die Putin in die Russische Föderation eingegliedert, erfolgt das erst später.

Herr Geiger: Ja, das hängt auch zusammen mit den Vermittlungsversuche von Deutschen und Franzosen im sogenannten Normandieformat, benannt nach dem gemeinsamen Treffen, das anlässlich des Jahrestags der alliierten Invasion in der Normandie stattfand, wo eben alle versammelt waren. Putin, der neue ukrainische Präsident Poroschenko, Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Hollande und diese vier praktisch versucht haben eine Art Vermittlung zusammen mit den Separatisten. Und das ist eben Teil des Problems gewesen, dass Russland als Vermittler dort gehandelt wurde, obwohl es eigentlich Konfliktpartei gewesen wäre. Und das Ergebnis? Letztlich waren auch in dem Zusammenhang die Minsk eins und Minsk zwei Abkommen, die eben mehr Autonomierechte und Sprachenschutz für die östlichen Gebiete eben gerade Donezk und Luhansk vorsahen. Aber auch da keine Seite hat sich darangehalten. Putin unterstellt immer nur einseitig der Ukraine, sie hätte dagegen verstoßen. Die verstoße deswegen aber wirklich auf beiden Seiten. Es gab auch immer die OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Beobachter ist auch eine Sache, so schwach die OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sonst ist. Das ist ein großes Verdienst. Es gab bis 2022 immer Militärbeobachter, die allerdings wirklich nur verzeichnen durften, von welcher Seite geschossen wird oder wo geschossen wird und nicht eingreifen konnten. Also ist nur protokolliert und da kann man diese Verstöße ja eigentlich alles nachlesen. Aber es hat wenig geändert, auch im Bewusstsein drang es nicht wirklich vor.
Herr Gutzeit: Jetzt haben wir über Russlands Reaktion im Osten der Ukraine nach der Annexion gesprochen. Aber wie hatten denn damals eigentlich die westlichen Staaten auf die Annexion reagiert?
Herr Geiger: Also diese Legitimationsversuch ist als erstes gescheitert. Es gibt eine Resolution der VN Generalversammlung, die auch von Deutschland und anderen westlichen Staaten mitinitiiert wurde, die eben klar zurückgewiesen hat, dass dies ein illegaler Akt war und die Annexion der Krim illegal bleibt. Sonst muss man tatsächlich sagen, es gibt eigentlich sehr verhaltene Reaktionen, überraschend verhaltene oder erschreckend verhaltene Reaktionen. Letztlich überlassen die USAUnited States of America, die Obama Administration, den deutschen und Franzosen, Stichwort Normandieformat, das Krisenmanagement. Es gibt Sanktionen der EU, die sind aber, wie wir wissen, sehr, sehr sanft und treffen Russland letztlich nicht wirklich. Es sind Finanzrestriktionen für Geschäfte, Einschränkung von Waffenexporten, die den Franzosen beispielsweise auch sehr sehr schwerfallen, zunächst mal, und gewisse Reisebeschränkungen. Das tut alles nicht wirklich weh. Die Russen reagieren dafür sogar mit einem Gegenembargo, dass die russische Bevölkerung schon viel eher trifft, nämlich die Einschränkungen von EU- Nahrungsmittel. Und die NATO selbst, da beginnt ein Umdenkungsprozess. Man entdeckt praktisch nach der Phase der Auslandseinsätze und der Krisenintervention, die Landes- und Bündnisverteidigung wieder. Aber erst im September, beim NATO Gipfel in Wales, wird das 2 % Ziel wirklich verbindlich für die nächsten zehn Jahre, also bis zum Jahr 2024, soll die 2 % Abgabe des Bruttosozialprodukts für Verteidigungsausgaben erreicht werden. Und wir wissen selbst, dass gerade die Deutschen immer sehr, sehr säumig waren. Wir erinnern uns, dass eine Koalitionsregierung, die Große Koalition und vor allem die SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands hatte ein massives Problem mit dem Säbelrasseln der NATO, wie der damalige Außenminister Steinmeier es dann noch ausdrückte. Oder auch ähnlich, polemisch, der spätere SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands Kanzlerkandidat und Vorsitzende Sigmar Gabriel, damals Wirtschaftsminister, der gemeint hat, bei 2 % wüsste man gar nicht, wo man all die Flugzeugträger hinstellen sollte, wo doch eigentlich auch damals schon erkennbar war, dass es der Bundeswehr eigentlich an allem fehlte. Also das war eine parteipolitische Polemik, die auch überlagert war durch die Verklärung der Willy Brandt’schen Ostpolitik und eine Fixierung, dass Mal eine Gleichsetzung der eigentlich Status quo orientierten Sowjetunion mit Putins Russland, dass eben in der Zwischenzeit längst wieder auf Expansionskurs und Revisionskurs war. Das war also ein Verkennen der Lage. Aber die NATO selbst hat auch bei dem Gipfel in Wales im September 2014 eingeleitet, eine verstärkte Präsenz der NATO Truppen an der Ostflanke, insbesondere im besonders exponierten Baltikum, richtig materialisiert sich das allerdings auch erst zwei Jahre später beim NATO Gipfel in Warschau, wo die Enhanced Forward Presence der NATO wirklich aufgebaut wird. Mit vier Kampfbataillons Gruppen, die multinational zusammengesetzt wird. Die Deutschen beispielsweise führen in Litauen. Aber auch da war die NATO noch immer bemüht, praktisch Putin entgegenzukommen und den eigentlich von Putin längst schon gebrochenen Vertrag oder die Zusagen der NATO Russland Akte von 1997 einzuhalten, nämlich dass zum gegenwärtigen sicherheitspolitischen Zeitpunkt keine NATO Truppen in erheblicher Zahl dauerhaft in den neuen NATO Staaten stationiert werden würden. Das erklärt, warum eben nur so eine geringe Truppen Zahl unter 4000 und die zudem auf einer ständigen Rotationbasis, also nicht ständig dort stationiert waren. Dieses Signal sollte eben einerseits Entschlossenheit signalisieren, andererseits Putin aber auch nicht zu sehr beunruhigen. Und man kann sagen, eigentlich hat das, sind die Effekte komplett verpufft. Besonders krasses Beispiel wiederum Deutschland. Die schließen 2015 mit Russland den Vertrag über Nordstream Zwei, der die ohnehin schon gefährliche Energieabhängigkeit von russischem Erdgas und Erdöl noch weiter gesteigert hat. Das alte Europa, also die klassischen Länder Frankreich, Deutschland, Großbritannien, waren eben zu sehr befangen in ihren alten Strukturen. Man kann auch sagen die Deutschen mit ihrem Mythos Ostpolitik, eine gewisse Russlandnähe, die Franzosen in dem Glauben, besonders gute Beziehungen zu Russland aufbauen zu können, und die Briten eine gewisse Abhängigkeit durch das viele Oligarchengeld in London, die Nord und Osteuropäer haben sehr viel sensibler und hellsichtiger im Rückblick reagiert und angefangen, praktisch ihre Verteidigungsausgaben wieder hoch auf zu schrauben. Selbst das neutrale Schweden hat 2017 wieder die Wehrpflicht eingeführt. Aber sonst war erst mal insgesamt eher relativ schnell wieder ein Übergang zum Business as usual. Eine wirklich fatale Entwicklung, wie wir aus der Rückschau wissen.
Herr Gutzeit: Wenn wir von der Rückschau oder Gegenwart sprechen, möchte ich noch mal eine Frage in die Zukunft werfen. Was glauben Sie, können wir aus der Krim Annexion für Russland selbst lernen? Und dann wiederum, glauben Sie, dass China in Bezug auf Taiwan etwas aus dieser Krim Annexion lernen wird, als gelungenes oder misslungenes Beispiel mit Blick auf den heutigen Krieg in der Ukraine?
Herr Geiger: Nun sind Historiker immer schlechte Zukunftspropheten. Insofern ist es immer etwas gewagt. Und Lernen aus der Geschichte haben die meisten Historiker auch eher ein Problem. Versuchen wir es trotzdem mal, ich denke, man kann schon sagen, dass die schwergewichtigkeit, dieses Völkerrechtsbruch durch die Annexion der Krim, zunächst nicht wirklich in seiner Bedeutung wahrgenommen wurde. Und da kann man vielleicht sensibler sein. Es war allerdings die Zeit, es war 100 Jahre Erster Weltkrieg. Der damalige Bestseller, auch vom damaligen Außenminister Steinmeier gerne diskutiert, war Christopher Clarks „Die Schlafwandler“. Und man wollte eben nicht, wie die damaligen Staatsmänner von 1918, schlafwandeln in einen möglicherweise eskalierenden Konflikt hineinstolpern. Aber das hat so ein bisschen auch verdeckt, dass es bequem war, nichts zu tun. Und letztlich sollte man rechtzeitig so viel auch wieder mehr durchaus auf Nachbarn und Experten reagieren, die frühzeitig durchaus gewarnt haben, aber dann immer als Schwarzmaler oder gewissermaßen russisch-traumatisiert eigentlich abgetan wurde. Man hat sie angehört, aber nicht wirklich ernst genommen. Da vielleicht mehr Sensibilität aufzubauen, könnte eine mögliche Konsequenz sein. Und die andere ist tatsächlich, dass die Zeitenwende, die verkündet wurde, auch tatsächlich ernst genommen wird. Und da hat man durchaus noch nicht überall den Eindruck, dass das auf den verschiedensten Ebenen der Fall ist. Wie weit die Chinesen auf die Krim schauen und auf jetzt vor allem noch mehr auf die Invasion der Ukraine, halte ich auch für ziemlich zentral. Ähnlich wie Putin werden sie mit Argusaugen verfolgen, wie weit tatsächlich der Westen bereit ist, Durchhaltefähigkeit zu zeigen. Denn es zeigt sich ja auch jetzt schon. Der Konflikt wird nicht innerhalb weniger Monate auch absehbar vorbei sein, sondern es droht wirklich ein lang hin gezogener Konflikt. Und wenn man nur die Wirtschaftsdaten anschaut, ist Russland deutlich unterlegen den vereinten westlichen Staaten, was die Wirtschaftskraft betrifft. Aber die Russen in ihrem autoritär diktatorischen Charakter, setzen in der Zwischenzeit voll auf Kriegswirtschaft während eigentlich die Friedenswirtschaft im Westen fröhlich weiterläuft und auch da der Aufwacheffekt noch nicht wirklich da ist und schon eher praktisch die Zustimmung zu bröckeln scheint an den verschiedensten Fronten. Nach dem Regierungswechsel, wenig in den Niederlanden, aber insbesondere in der Slowakei, die Wahlen in den USAUnited States of America im November werden eine zentrale Rolle spielen. Und danach wird sich eben entscheiden, wie lang der Westen wirklich bereit ist zu seinen Zusagen zu stehen, die Ukraine so lange wie nötig zu unterstützen. Und das, denke ich, wird das zentrale Signal sein, dass auch in Peking sehr genau beobachtet werden wird.
Herr Gutzeit: Herr Geiger, vielen Dank für Ihre Ausführungen zur Vergangenheit, aber auch zur Gegenwart der Krim. Wer noch mehr über die Annexion der Krim erfahren möchte, empfehle ich unsere aktuelle Ausgabe der „Militärgeschichte. Zeitschrift für Historische Bildung“, erste Ausgabe Quartal 2024. Dort ein Artikel von Herrn Doktor Geiger zur Krim-Annexion. Vielen Dank.

von ZMSBw Onlineredaktion

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