Das ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr führt jedes Jahr eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zur Bundeswehr und Deutschlands Verteidigungspolitik durch. Die Ergebnisse der Befragung von 2023 wurden vor kurzer Zeit veröffentlicht. Mit dessen Leiter Dr. Timo Graf, sprechen wir über Haltung der Gesellschaft zur Zeitenwende in der deutschen Verteidigungspolitik und ihr Verhältnis zur Bundeswehr.
Russlands großangelegter Angriff auf die Ukraine führte 2022 zu teil großen Veränderungen im verteidigungspolitischen Meinungsbild der deutschen Gesellschaft. Aber was bleibt von der Zeitenwende in den Köpfen der Deutschen? Die repräsentativen Ergebnisse der jährlichen Bevölkerungsbefragung geben Antworten. An der Umfrage aus dem Jahr 2023 nahmen über 2.200 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger teil. Die Bevölkerungsbefragung ist seit Beginn der Umfragestudie im Jahr 1996 ein wichtiger Gradmesser für die gesellschaftliche Legitimation, Relevanz und Integration der deutschen Streitkräfte. Ihre Ergebnisse dienen dazu, das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft zu analysieren und einzuschätzen.
11 Fragen an Dr. Timo Graf
Wiss. Oberrat im Forschungsbereich Militärsoziologie
Der Forschungsbericht der Bevölkerungsbefragung 2023 trägt den Titel „Was bleibt von der Zeitenwende in den Köpfen?“. Was genau meinen Sie damit?
Parallel zur Zeitenwende in der deutschen Verteidigungspolitik gab es 2022 eine Zeitenwende in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger, also zum Teil dramatische Veränderungen in den verteidigungspolitischen Einstellungen. Erstens: Das ehemals ambivalente Russlandbild in der deutschen Bevölkerung ist der Erkenntnis gewichen, dass Russland eine Bedrohung für unsere Sicherheit darstellt. Zweitens: Als Reaktion auf die Bedrohung durch Russland ist die Bündnissolidarität mit den östlichen NATO-Partner deutlich gewachsen. Drittens: Die öffentliche Zustimmung zur finanziellen und personellen Ertüchtigung der Bundeswehr ist massiv gestiegen und erreichte einen historischen Höchstwert. Das ist die Zeitenwende in den Köpfen.
Und was bleibt von dieser „Zeitenwende in den Köpfen“?
Russland wird auch weiterhin von einer Mehrheit von über 60 Prozent als Bedrohung wahrgenommen, die Zustimmung zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben ist mit 57 Prozent nahezu unverändert hoch und auch die NATO-Bündnissolidarität bleibt weiterhin sehr viel stärker ausgeprägt als vor Russlands Invasion der Ukraine. Allerdings zeichnet sich bei der überwiegend positiven öffentlichen Meinung zur Sicherung der NATO-Ostflanke ein Rückgang ab. So ist zum Beispiel die Zustimmung zu den Bundeswehr-Missionen im Baltikum – EFPEnhanced Forward Presence Litauen und das Baltic Air Policing – gesunken. Die grundsätzliche NATO-Bündnistreue der Deutschen bleibt davon aber weitgehend unberührt. So sind 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger davon überzeugt, dass Deutschland Mitglied der NATO bleiben muss, um seine eigene Sicherheit gewährleisten zu können. Das heißt: Zwischen der prinzipiellen NATO-Bündnistreue in der deutschen Bevölkerung und ihrer praktischen Solidarität mit den östlichen NATO-Partnern wächst eine Lücke.
Wie erklären Sie sich den Rückgang beim öffentlichen Zuspruch zur Verteidigung der NATO-Ostflanke?
Ganz zu Beginn der russischen Invasion der Ukraine war die Sorge groß, dass Russland die Ukraine relativ schnell „überrennen“ könnte. Russland hätte dann mit seinen Angriffstruppen direkt an der Grenze zur EU und NATO gestanden. Im Sommer 2023, also zum Zeitpunkt unserer Befragung und nach über einem Jahr Krieg, zeigte sich jedoch, dass Russland keines seiner strategischen Kriegsziele erreicht hatte und stattdessen herbe Verluste hinnehmen musste. Zudem wurden mit der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer 2023 große Hoffnungen verbunden, dass Russland noch weiter zurückgedrängt werden könnte.
Zusammengenommen führten diese Faktoren offenkundig zu einer gewissen Erleichterung bei vielen Deutschen. Russland wird zwar weiterhin als von einer Mehrheit als Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahrgenommen, aber von Krieg in Europa fühlen sich deutlich weniger Menschen in ihrer persönlichen Sicherheit bedroht als im ersten Kriegsjahr. In konkreten Zahlen: 2021 fühlten sich 15 Prozent von Krieg in Europa persönlich bedroht, 2022 stieg der Anteil auf 45 Prozent und im Jahr 2023 sank er auf 34 Prozent. Es ist sicherlich erfreulich, dass die Kriegsangst der Bürgerinnen und Bürger gesunken ist, aber die Volatilität dieser Bedrohungsperzeption birgt ein gewisses Risiko.
Was meinen Sie damit konkret?
Bedrohungswahrnehmungen sind tendenziell volatil, so auch die wahrgenommene Bedrohung durch Russland bzw. den Krieg in der Ukraine. Ein Rückgang in der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg, angebliche „Verhandlungsangebote“ seitens des russischen Präsidenten oder eine ausbleibende gesellschaftliche Debatte und Verständigung über die Implikationen dieses Krieges für unsere eigene Sicherheit könnten dazu führen, dass die wahrgenommene Bedrohung durch Russland weiter sinkt. Unter solchen Umständen droht der gesellschaftliche Rückhalt für die anderen beiden Eckpfeiler der verteidigungspolitischen Zeitenwende ins Wanken zu geraten, also für die Unterstützung des militärischen Engagements an der NATO-Ostflanke und die Ertüchtigung der Bundeswehr.
Aus diesem Grund halte ich den vom Bundesminister der Verteidigung in die öffentliche Debatte eingeführten Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ für wichtig und richtig, denn er macht die reale Kriegsgefahr bewusst, mit der wir uns durch Russlands Aggression in der Ukraine und darüber hinaus konfrontiert sehen – aktuell und in absehbarer Zukunft. Wenn das Ziel der Zeitenwende die Abschreckung einer russischen Aggression gegen Europa sein soll, dann kann man Russland doch nicht jede jeden Monat neu bewerten. Russland bleibt auf absehbare Zeit eine Bedrohung und deshalb müssen wir uns darauf konzentrieren, wie wir dieser Bedrohung möglichst schnell und effektiv entgegentreten können.
Die Forderung nach einer kriegstüchtigen Bundeswehr wird von einer Diskussion über einen Mentalitätswandel in der deutschen Bevölkerung begleitet. Die Bevölkerung müsse wehrhafter werden. Wie wehrhaft ist die deutsche Bevölkerung aus ihrer Sicht?
Anders als die Kriegstüchtigkeit, die maßgeblich auf die Fähigkeit zum Kämpfen abstellt, ist Wehrhaftigkeit zunächst eine innere Haltung, die handlungsleitend werden kann, wie das Beispiel der Ukraine eindrucksvoll beweist. Dabei sollte Wehrhaftigkeit nicht bloß auf die persönliche Verteidigungsbereitschaft im Sinne der Bereitschaft zum Dienst an der Waffe reduziert werden. Viele Ausdrucksformen von Wehrhaftigkeit sind denkbar und viele davon weisen keinen Bezug zum Militär(ischen) auf. So kann es zum Beispiel wehrhaft sein, in den sozialen Medien klar erkennbare Desinformationen über die NATO oder den Ukraine-Krieg den jeweiligen Betreibern aktiv anzuzeigen.
Mit Blick auf die Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung mache ich mir jedenfalls keine Sorgen um die Wehrhaftigkeit der deutschen Bevölkerung. Wehrhaftigkeit beginnt mit der Wahrnehmung einer Bedrohung. Wie ich bereits erwähnt habe, hat die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Russland inzwischen klar als Sicherheitsbedrohung erkannt. Daraus leitet sich auch die hohe Zustimmung zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben ab, also die Forderung nach einer voll ausgerüsteten und kriegstüchtigen Bundeswehr. Und 39 Prozent der Befragten würden Deutschland mit der Waffe verteidigen, wenn es einen militärischen Angriff gäbe.
Heißt das, die Mehrheit der Deutschen wäre nicht bereit Deutschland mit der Waffe zu verteidigen?
Ja, eine Mehrheit von 55 Prozent erklärt sich nicht dazu bereit, im Angriffsfall zur Waffe zu greifen. Ist das ein besorgniserregender Befund? Nicht wirklich. Nur mal zur Einordnung der Größenordnung: 39 Prozent entsprächen annähernd 33 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die sich zu einem Abwehrkampf mit der Waffe bereit erklären. Das entspräche 66 Mal des aktiven militärischen Personals der Bundeswehr zur Höchstzeit des Kalten Krieges und mehr als 180 Mal des aktuellen militärischen Personalkörpers der Bundeswehr, d.h. ohne Reservisten. Selbst wenn im Ernstfall nur die Hälfte der Befragten bei ihrer in der Umfrage erklärten Haltung bliebe, wären dies noch immer annähernd hundert Mal mehr Freiwillige als alle aktiven Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.
Dieses wirklich absurde Rechenbeispiel macht doch eines sehr deutlich: Wenn wir als deutsche Gesellschaft ernsthaft über unsere Wehrhaftigkeit diskutieren wollen, dann sollten wir uns nicht mit Spekulationen über die Zahl der potentiellen freiwilligen Abwehrkämpfer aufhalten. Mehr freiwillige Kämpfer als verfügbare Waffen und Munition werden es in jedem Fall sein.
Wenn wir gerade über Wehrhaftigkeit sprechen: Wie steht die Bevölkerung denn zur Einführung eines Wehrdienstes?
Im Vergleich zur ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr-Bevölkerungsbefragung 2022 ist die öffentliche Zustimmung zur Einführung eines Wehrdienstes im Jahr 2023 leicht gestiegen: von 50 auf 52 Prozent. In der Gruppe der 16 bis 29-Jährigen stieg die Zustimmung zu einem Wehrdienst sogar noch stärker: von 36 Prozent auf 41 Prozent. Explizit abgelehnt wird ein Wehrdienst in dieser Gruppe nur von einem Viertel, während 30 Prozent unentschieden sind. Das heißt: Eine relative Mehrheit der jungen Menschen wäre bereit, einen Wehrdienst zu leisten. Einstellungsunterschiede zwischen jungen Männern und Frauen sehen wir übrigens keine. Auch andere seit 2023 durchgeführte Befragungen belegen, dass eine Bevölkerungsmehrheit offen für die Wiedereinführung eines Wehrdienstes ist.
Steht die öffentliche Zustimmung zum Wehrdienst in einem Zusammenhang zum Krieg in der Ukraine?
Die Zustimmung zu einem Wehrdienst hängt unter anderem von der Bewertung Russlands ab: Je mehr die Befragten Russland als Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahrnehmen, desto größer ist die Zustimmung zu einem Wehrdienst – auch unter den jungen Menschen. In Anbetracht der wahrgenommenen Bedrohung durch Russland sind mehr junge Menschen bereit, einen Wehrdienst zu leisten – unabhängig vom Geschlecht. Es geht ja schließlich um ihre Zukunft in einem freien und sicheren Europa. So lange Russland die Sicherheit Deutschlands und Europas bedroht, dürfte die positive öffentliche Meinung zu einem Wehrdienst fortbestehen.
Deutschland unterstützt die Ukraine bei ihrem Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor auch mit Waffenlieferungen. Wie steht die Bevölkerung dazu?
Gibt es in der Einstellung zu den Waffenlieferungen an die Ukraine Unterschiede zwischen Befragten in Ost- und Westdeutschland? In Medienberichten oder Talkshows wird suggeriert, dass diese Frage die Republik in Ost und West spalten würde.
In Ostdeutschland ist die Unterstützung für Waffenlieferungen an die Ukraine im Durchschnitt geringer als in den anderen Regionen, aber deshalb von einer Spaltung der deutschen Gesellschaft in Ost und West zu sprechen, wäre nicht nur Wasser auf die Mühlen russischer Desinformation, sondern auch eine falsche Interpretation der Befunde. Wenn überhaupt, dann ist die öffentliche Meinung in Ostdeutschland in dieser Frage gespalten. In Ostdeutschland steht die Mehrheitsbildung zu dieser Frage noch aus. Das heißt aber auch: Hier besteht ein erhöhter Gesprächsbedarf. Das muss man zunächst einmal anerkennen und dann den Dialog suchen.
Wir haben jetzt viel über verteidigungspolitische Aspekte diskutiert. Zum Abschluss würden wir deshalb gerne wissen, wie die Bevölkerung eigentlich zur Bundeswehr steht. Gab es infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine denn auch Zeitenwende in den zivil-militärischen Beziehungen? Kurzum: Haben die Deutschen die Bundeswehr denn jetzt endlich lieb?
Die Bundeswehr genießt in der Bevölkerung ein hohes Ansehen – und das nicht erst seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seit 2000 geben mindestens Dreiviertel der Bürgerinnen und Bürger an, eine positive Einstellung zur Bundeswehr zu haben. Die seit Jahrzehnten positive Grundeinstellung der Bürgerinnen und Bürger zur Bundeswehr erreicht 2023 allerdings einen historischen Höchstwert: Inzwischen haben annähernd neun von zehn Befragten eine positive Einstellung zur Bundeswehr. Ebenso viele Befragte vertrauen der Bundeswehr. Seit 2014 ist der Anteil der Bevölkerung mit einer positiven Einstellung zur Bundeswehr um 11 Prozentpunkte gewachsen, während sich die Gruppe der expliziten Bundeswehr-Kritiker nahezu halbiert hat, von 23 auf 11 Prozent. Eine Zeitenwende in der Einstellung der Bevölkerung zur Bundeswehr hat es also nicht gegeben, denn die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger steht seit jeher hinter ihrer Truppe.
Mit dem Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich in den zivil-militärischen Beziehungen also gar nichts verändert?
Ja doch, die Haltung zum Hauptauftrag der Bundeswehr hat sich verändert, weil der Hauptauftrag selbst ein anderer ist. Vor 2022 war das internationale Krisenmanagement dreißig Jahre lang der Hauptauftrag der Bundeswehr. Landes- und Bündnisverteidigung war eher kein Thema, weil ja auch keine existenzielle Bedrohung für Europas Sicherheit bestand – oder zumindest wurde eine solche Bedrohung nicht wahrgenommen. Und die Bevölkerung stand eben nicht immer hinter allen Auslandseinsätzen fernab der Heimat, z.B. in Afghanistan oder zuletzt auch Mali. Die aktuelle öffentliche Zustimmung zum neuen Hauptauftrag der Bundeswehr, der Landes- und Bündnisverteidigung in Europa, ist ungleich größer, eben weil eine Bedrohung für unsere Sicherheit wahrgenommen wird. Unter diesen Bedingungen wird die positive Grundhaltung zur Bundeswehr durch die positive Einstellung zu ihrem Hauptauftrag ergänzt.
Was bleibt von der Zeitenwende in den Köpfen?
Forschungsbericht 136. Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsbild in der Bundesrepublik Deutschland 2023
Wir verwenden Cookies, um Ihnen ein optimales Webseiten-Erlebnis zu bieten. Das sind einerseits für den Betrieb der Seite notwendige Cookies, andererseits solche, die für Statistikzwecke, für die Anzeige von Posts aus sozialen Netzwerken oder bei der Anzeige von Kartenmaterial gesetzt werden. Sie können selbst entscheiden, welche davon Sie zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass auf Basis Ihrer Einstellungen eventuell nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.
Es ist uns ein Anliegen, Ihre Daten zu schützen
Detaillierte Informationen zum Datenschutz finden Sie unter