Der Luftkrieg in der Ukraine: Erste Erfahrungen und Erkenntnisse für die militärische Luftfahrt der Zukunft
Der Luftkrieg in der Ukraine: Erste Erfahrungen und Erkenntnisse für die militärische Luftfahrt der Zukunft
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Der Krieg in der Ukraine wird nicht nur am Boden geführt, sondern auch zur See, im Cyberspace, im Weltraum – und in der Luft. Doch was kennzeichnet den Luftkrieg über der Ukraine und welche Folgen lassen sich aus einer ersten Analyse ableiten? Diese Fragen beatwortete Oberst i.G.im Generalstabsdienst Stefan Bauch aus dem Kommando Luftwaffe in seinen Vortrag: Der Luftkrieg in der Ukraine. Erste Erfahrungen und Erkenntnisse für die militärische Luftfahrt der Zukunft, 17. August 2022 am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr).
Der Abendvortrag im frisch renovierten Hans-Meier-Welcker-Saal des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr ist öffentlich und circa 150 Gäste aus der Bundeswehr und der Gesellschaft warten gespannt. Nach einer kurzen Einführung in das Vortagsthema durch Oberst Dr. Lange, Kommandeur des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, tritt Oberst i.G.im Generalstabsdienst Stefan Bauch hinter das Pult und Ruhe kehrt ein.
Schnelles Scheitern und neue Schwerpunkte
Gleich zu Beginn stellt Oberst Bauch heraus, dass sich um einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ Russlands gegen die Ukraine handele und seine folgende Luftkriegsanalyse kein „abschließendes Ergebnis“ sei, denn der Krieg dauere an und damit auch dessen Auswertung. Wie schnell sich der Krieg verändert habe, werde schnell deutlich: Russland griff nämlich in der ersten Kriegsphase über „vier Achsen“ die Ukraine an. Der russische Schwerpunkt lag dabei auf der Hauptstadt Kyjiw, „um in einer schnellen Operation die Regierung zu stürzen“, möglicherweise in der Hoffnung, dass es nicht zu einem langen Krieg komme. Aber es kam anders, denn der russische Hauptangriffsschwung zerbrach augenscheinlich schon am ersten Tag, als eine großangelegte Luftlandeoperation auf einen Flugplatz im Nord-Osten Kyjiw von ukrainischen Luftstreitkräften gestoppt wurde: „Es war ein wahres Desaster“, fasst es Oberst Bauch zusammen. Als Ursache des russischen Scheiterns und Verwehrens eines schnellen Sieges sieht der Generalstabsoffizier Fehleinschätzungen und Fehlplanungen. Nachdem Kyjiw nicht eingenommen werden konnte, gruppierte Russland in der zweiten Kriegsphase seine Streitkräfte um. Anschließend verlegte es seinen neuen Fokus auf den Osten und Süd-Osten der Ukraine mit dem Donbass und der Landbrücke zur besetzten Krym. Aktuell würde sich der Krieg jedoch in einer dritten Phase befinden, gekennzeichnet durch die Absicht der russischen Führung, die besetzten Gebiete zu verteidigen. Möglicherweise sei der Krieg aber auch schon in einer vierten Phase mit einem neuen operativen Fokus auf den Süden und der „Vorbereitung einer ukrainischen Gegenoffensive“, so Bauch.
Wenig Synchronisation, wenig Bewegung im Luftraum
Bezogen auf die Luftkriegführung stellt Oberst Bauch fest, dass Russland den Kriegsbeginn zunächst noch gemäß seiner eigenen Doktrin geführt habe. Zu Beginn ging ein bildlicher „Raketenregen“, bspw. mit Cruisemissiles, auf die Luftverteidigung und Flugplätze der Ukraine nieder. Hierbei wurde der Angriff auch mit elektronischer Kriegführung unterstützt, deren Synchronisation jedoch mit der Bewegung der Bodentruppen verloren ging. Die Anzahl der sogenannten „sorties“, der Flugbewegungen, sei von Beginn an „erstaunlich gering“ gewesen. Erstaunlich sei zudem, dass sich die geringe Rate im Kriegsverlauf nicht erhöht habe. In Folge blieb die ukrainische Luftwaffe erhalten und konnte mit den verbliebenen „hochmobilen Luftverteidigungssystemen“ und fliegenden Systemen Russland die Luftherrschaft „verwehren“, so Oberst Bauch – abgesehen vom Donbass. Mit dem taktischen Vorhaben, durch Tiefflüge am Tag und in der Nacht das Blatt zu wenden, bliebe Russland aber erfolglos, denn die ukrainischen Streitkräfte setzten zielbringend kleine und mobile Systeme ein, wie schultergestütze Flugabwehr, bspw. Stinger-Raketen. Daher setze die russische Seite hauptsächlich auf Abstandswaffen mit weitreichenden Flugkörpern und konzentriere sich weiter auf Tiefflüge, aber „wir sehen keine komplexen Luftkriegsoperationen“. Aus diesem Grund spiele der Luftkrieg im Ukrainekrieg keine ausschlaggebende Rolle und der Einsatz in der Luft sei kein „strategischer Gamechanger“, wie Bauch zusammenfasst.
Alte Bilder in neuen Zeiten
Aktuell erinnere die Situation in der Ukraine an Bilder des Ersten Weltkrieges, denn es tobe eine „Abnutzungs- und Konzentrationsschlacht der Artillerie“. Besonders der ukrainische Einsatz des USUnited States-amerikanischen Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystems HIMARS ermögliche neue Optionen für das angegriffene Land. Dieses Beispiel der internationalen Unterstützung veranschauliche auch das neue „center of gravity“ auf ukrainischer Seite: Hier komme es für Ukraine und deren Partnerstaaten darauf an, den Zusammenhalt zu festigen und fortzuführen, um weiter erfolgreich zu sein. Politisch wie militärisch-operational müssten nach Oberst Bauch viele verschiedene Systeme in diesem komplexen Kriegsszenario ineinandergreifen können. Für die Ukraine habe es sich dabei als vorteilhaft erwiesen, in kleinen Gruppen flexibel, autark und mobil zu kämpfen. Wie in der Bundeswehr werde das Prinzip von „Führen mit Auftrag“ angewendet, denn freier Handlungsspielraum der Kampfgemeinschaften bringe einen nicht zu unterschätzen Vorteil. Bei russischen Truppen sei das Gegenteil der Fall: Hier dominierten starre und hierarchische Befehlsketten sowie ein fehlendes Unteroffizierkorps. Ein Grund für den stockenden russischen Vormarsch zu Beginn könnte auch gewesen sein, dass die taktische Ebene nicht über die wahre Absicht der Führung informiert gewesen sei. Wie im Einsatz von kleinen Gruppen aus Soldatinnen und Soldaten, verhält es sich auch technologisch: Der Ukraine gelinge es erfolgreich, auch mit marktverfügbaren kleinen Drohnen z.B. russische Artillerie aufzuklären und schnell zu bekämpfen. In der Ukraine wie in jedem Krieg gelte: Es kommt auf das erfolgreiche Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren an. Es reiche nicht aus, so Oberst Bauch, auf dem Papier eine starke Luftwaffe oder ein hochgerüstetes Militär vorzugeben, sondern es sei nötig, ihren gemeinsamen Einsatz im Gefecht zu beweisen. Für eine synchronisierte und vernetzte Operationsführung benötige man ausreichend Training: „Wenn Sie das Zusammenspiel von komplexen Szenarien nicht üben können, dann wird es keiner können“, fasst es Oberst Bauch zusammen. Bisher sei festzustellen, dass sich auch nach der mutmaßlichen Installation eines russischen „Joint-Command“ keine Fähigkeit zeige, komplexe Luftkriegsoperationen zu planen und zu führen – die Synchronisation der Kräfte bleibe „mangelhaft“.
Zusammenspiel aller Kräfte, auch im Weltraum
Im Ukrainekrieg werde nach Bauch auch deutlich, dass es ganz besonders auf eine weitere Dimension ankommt: den Weltraum. Seine Bedeutung sei „nicht zu unterschätzen“. Geschütze Kommunikation, Navigation und Datenverbindungen für bspw. einheitliche Zeitsignale seien eine „Bedingung“ für vernetzte Operationsführung. In Bezug auf eigene Kommunikation sei es der ukrainischen Führung auch gelungen, einen entscheidenden Vorteil zu nutzen: Starlink-Satelliten. Die Aufrechterhaltung der Kommunikation und Führungsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte wäre ohne deren Bereitstellung unmöglich geworden. Ebenso verhalte es sich für Selenskyj, den ukrainischen Präsidenten, da er weiterhin seine Kommunikation gegenüber der ukrainischen Gesellschaft sicherstellen konnte und die Moral der Bürgerinnen und Bürger stärke. Abschließend betont Oberst Bauch, dass es im Kampf um die Luftherrschaft auf viel mehr ankommt als nur dem Gegner die Luftherrschaft zu verwehren. Für die deutsche Luftwaffe zog er ein Fazit: Ohne ausreichend „Training, Übungen und Flugstunden“ könne kein Luftkrieg gewonnen werden. In der Luftverteidigung müsse sich zudem gegen weitreichende Raketensysteme abgesichert werden, deren Angriffe auch aus dem Weltraum kommen könnten. Alle Systeme müssten dabei koalitionsfähig und kompatibel sein. Dazu kommen robuste Command-and-Control-Strukturen, sichere Funkverbindungen, stabile Logistik und ausreichend Munition. Aber der Schlüssel zum Erfolg sei das Zusammenspiel aller Kräfte und „der richtige Waffen- und Systemmix, aber nicht nur bei Luftstreitkräften“, so Oberst Bauch. Ein schneller Krieg ist in einem Szenario von fast gleich aufgestellten Gegnern nahezu ausgeschlossen, auch darauf müsse man sich einstellen. Wenn es zu einem Abnutzungskrieg komme, dürfe der Nachschub an Material und Personal in der Landes- und Bündnisverteidigung nicht unbeachtet bleiben. Dass sich die Luftwaffe aber den aktuellen Herausforderungen stellen kann, beweise sie täglich und insbesondere mit der Verstärkung der Ostflanke. Zuletzt demonstrierte sie bei der Übung Rapid Pacific 2022 mit der Verlegung von sechs Eurofightern innerhalb von 24 Stunden in den Indo-Pazifik das Wesen von Luftstreitkräften: die schnelle Reaktionsfähigkeit und Schwerpunktbildung.