61. Internationale Tagung für Militärgeschichte (ITMG)

Panel 4b: Alles ein frage der Zeit? Ein Bericht

Panel 4b: Alles ein frage der Zeit? Ein Bericht

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7 MIN

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Zeit ist ein gewichtigter Faktor in militärischen Planungen und Operationen. Die Forschungsgruppe Gewalt-Zeiten der Univerität Hamburg und der Helmut-Schmidt Unuverität der Bundeswehr fragt nach den spezifischen Tempoarlitäten militärischer Gewaltunternehmungen. Die Beitrage diese Panels spannen eien Bogen von der Antike bis in den Zweiten Weltkrieg

Uhren an einer Wand zeiegn die Verschiedenen zeiten in den Einsatzgebieten der Bundeswehr an
(c) 2006 Bundeswehr / Pötzsch

Der Faktor Zeit und die Entgrenzung der Gewalt während der Blockade von Leningrad

Olga Sturkin (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) eröffnete das Panel mit dem Thema „Belagerung von Leningrad – Zeitfaktor und die Entgrenzung militärischer Gewalt in einem Blockadeunternehmen“. Ihre These: Die Intensität und die Formen der Gewalt stehen in vielerlei Hinsicht unter dem Einfluss des Faktors Zeit – die Zeit bestimmte das Vorgehen sowohl der Belagerer als auch der Belagerten.

Nach einer historischen Einordnung schilderte Sturkin die Überlegungen der deutschen Militärführung in Bezug auf Leningrad, welche maßgeblich vom Vorgehen gegen Moskau zeitlich und ressourcentechnisch bedingt waren: Da Moskau priorisiert wurde, musste Leningrad ressourcenarm und zügig ausgeschaltet werden. In Ermangelung ausreichender Angriffstruppen wurde daher bald nicht mehr von Einnahme, sondern von Einschließung und Blockade Leningrads gesprochen. Leningrad sollte durch langsames Töten „auf Distanz“, die Zermürbung der Bevölkerung und die Zerstörung der Infrastruktur, vernichtet werden. Zum Erreichen dieses Ziels fand zwangsläufig eine Überschreitung der Normen der Kriegsführung statt – die Flucht der Zivilbevölkerung sollte mit Waffengewalt verhindert werden, die Zentren der Lebensmittel- und Wasserversorgung, Krankenhäuser und andere lebenswichtige Infrastruktur wurden zum Ziel des Artilleriebeschusses. Dieses Vorgehen, das Aushungern, war 1941 noch nicht explizit als Mittel der Kriegführung ausgeschlossen oder geächtet. Ein Unrechtsbewusstsein kann aber dennoch durchaus auch in der Wehrmachtsführung nachgewiesen werden. Dies unterstreicht der Umstand, dass „Leningrad“ mithilfe der Propaganda- und Kontrollapparate im Deutschen Reich aus der Berichterstattung verschwand.

Die Entscheidung für die Blockade entstand, so Sturkin, vornehmlich unter dem Druck des Ressourcenmangels. Dieser bezog sich auf einen Mangel an Truppen, Munition, vor allem aber auch an Zeit: Als die Wehrmacht die Strategie des Blitzkriegs aufgeben musste, kalkulierte man auf das beschleunigte Aushungern durch Zerstörung der Infrastruktur und die Zermürbung durch dauerhaften Artilleriebeschuss. Nachteilig und verzögernd wirkte sich das mehrfache Durchbrechen des Belagerungsrings durch sowjetische Truppen aus – hier wurde wiederum die Zeit zum entscheidenden Faktor: Durch das Zufrieren des Ladogasees im Winter entstanden Lücken im Belagerungsring. Die zeitliche Fehleinschätzung fiel folglich mit der Fehleinschätzung hinsichtlich des sowjetischen militärischen Widerstands zusammen, sodass die Annahme, Leningrad wäre innerhalb kürzester Zeit am Ende, fehlging.

Sturkin fasste zusammen, dass Fehleinschätzungen (höchstwahrscheinlich) immer zur Niederlage führen, dass die Skalierung von Gewalt durch den Zeitfaktor bestimmt wird und unter Zeitdruck vermeintlich unvertretbare Entscheidungen immer mehr ins Machbare rücken. Dies führt zur Eskalation von Gewalt, zur Radikalisierungen und Überschreitungen der Normen.

Die Regulierung militärischer Gewalt im Mittelalter

Die zweite Panelistin, Franziska Quaas (Universität Hamburg), trug unter dem Titel „Ne ad dampnum exercitus: Prozesse der Regulierung militärischer Gewalt im Spiegel von temporalen Scheitern und entgrenzter Gewalt in den Italienfeldzügen Friedrich Barbarossas“ zu Temporalstrukturen der Feldzüge des 11.-13. Jh. vor. Dazu ging sie auf die verschiedenen Heeresordnungen Friedrich Barbarossas ein, welche früheste Versuche der Einhegung militärischer Gewalt darstellen. Weiter stellte sie den derzeitigen Stand der Forschung infrage, dem zufolge die Heeresordnungen zu Beginn der Feldzüge abgefasst worden sein sollen. Dieser Darstellung liegt das Bild eines frommen und mildtätigen Herrschers zugrunde, der durch seine Heeresordnungen im Vorfeld der Feldzüge für einen „gerechten Krieg“ sorgen wollte. Quaas selbst kommt nach eigenen Studien zu dem Schluss, dass Barbarossa erst durch die Ausübung exzessiver Gewalt während der Feldzüge zu den Heeresordnungen zur Regulierung militärischer Gewalt motiviert wurde. Exemplarisch ging Quaas auf die zweite Heeresordnung ein, die in 25 Punkten zwei wesentliche Themen regelt: einerseits die Friedenswahrung innerhalb des Heeres und andererseits die Regulierung militärischer Gewaltpraktiken gegenüber dem Gegner. Ersteres war nötig aufgrund der starken Heterogenität und vielfältigen Zusammensetzung des Heeres, welche hohes Konfliktpotenzial bargen. Die Wahrnehmung zahlreicher Fehlverhalten während des Feldzuges, beispielsweise von Plünderungen heiliger Stätten und Brandschatzungen motivierten Barbarossa zum zweiten Teil seiner Heeresordnung. Derlei Ausschweifungen wurden scharf verurteilt – erfuhr der Herrscher davon, handelte er streng und sanktionierte das Fehlverhalten. Legalität und Illegalität militärischer Gewalt wurden so bestimmt durch die Anordnung des militärischen oder politischen Führers. Eigenmächtigkeiten von Unterführern wurden nicht geduldet und als „illegal“ qualifiziert - von der militärischen Führung angeordnete Gewaltpraktiken dagegen waren „legal“. In Ausnahmefällen konnten dies auch Überschreitungen von gesellschaftlich geltenden Grenzen der Gewaltausübung sein.

Barbarossa als der legitimierte und christlich geweihte Herrscher allein konnte idealiter über Legalität und Illegalität bzw. den angemessenen Einsatz militärischer Gewalt entscheiden – dies stilisierte den Kaiser als idealen Feldherrn.

Illegaler Frieden und legale Massaker - Aushandlungen militärischer Gewaltanwendung in der römischen Antike

Im letzten Vortrag des Panels trug Theresia Raum, ebenfalls Universität Hamburg, zum Thema „Illegaler Frieden und legale Massaker – Überlegungen zur Aushandlung der Verhältnismäßigkeit militärischer Gewalt im Zuge der römischen Expansion“ vor. Themenorientiert startete sie „mit einem kleinen Massaker“, nämlich jenem des Servius Sulpicius Galba an den Lusitanern auf der Iberischen Halbinsel 50 v. Chr. Dieses Massaker wurde nie geahndet, was Raum zu der Leitfrage der Grenze zwischen legaler und illegaler Gewaltanwendung und die entsprechenden Aushandlungsprozesse in der mittleren römischen Republik brachte. Ihre These: Die Anwendung exzessiver militärischer Gewalt bewegt sich in einem Spannungsfeld von Zeitdruck, Auftrag und Notwendigkeiten. Diese These begründete sie mit dem cursus honorum, der römischen Ämterlaufbahn. Durch dessen starre Vorgaben, die ein Mindestalter vorschrieben, Iteration und Prorogation nur ausnahmsweise zuließen und das Annuitätsprinzip festlegten, hatte ein politisch ambitionierter Feldherr lediglich seine einjährige Amtszeit, um militärische Ehren zu erwerben. Dies wiederum war für eine weitere Karriere nötig. Im Fall Galba hing das besagte Massaker mit dem Ende seiner Amtszeit und damit dem sich schließenden Zeitfenster für einen militärischen Sieg zusammen. Die exzessive Gewalt war somit keinem spontan entstandenen Anlass geschuldet, sondern wurde bewusst eingesetzt und angeordnet, um den Sieg zu erzwingen. Folglich lasse sich der Referentin zufolge für den Untersuchungszeitraum ein grundsätzlich erhöhter Zeitdruck durch die kurze Dauer des eigenen Imperiums als dem einzigen Handlungszeitraum für die Begründung der weiteren Karriere konstatieren.

Die Feldzugsaison musste freilich nicht mit einem Massaker enden, wie Raum am Beispiel des Feldzuges des Mancinus gegen die Numantiner erläuterte. Mancinus schloss einen Frieden mit den Numantinern, um die Vernichtung seines Heeres zu verhindern. Das brachte ihm Schmach und Verachtung in Rom ein, denn ein Frieden infolge einer Niederlage wurde als Zerrüttung der Bindung zu den Göttern – als schändlich – angesehen. Nur Friedensschlüsse nach Siegen oder zu gleichberechtigten Bedingungen genossen das Wohlwollen der Götter und waren deshalb ehrenhaft für Rom und den Feldherrn.

Zwar sah sich auch Galba in Rom der Kritik an seinem Massaker ausgesetzt, eine Ahndung jedoch war aus Sicht der Zeitgenossen nicht angebracht oder nötig. Der Vorwurf an Galba bestand vor allem in der Täuschung und Irreführung der Lusitaner, nicht in dem eigentlichen Massaker an ihnen – also, so die Referentin, gab es Normerwartungen in erster Linie gegenüber dem Konzept der Ehre und Erwartungen an die sittliche Vortrefflichkeit des Feldherrn. Der entscheidende Maßstab für die Beurteilung nach „Rechtmäßigkeit“ oder „Unrechtmäßigkeit“ lag also nicht in den Handlungen selbst, sondern in den Motiven und Absichten der Handelnden.

Schlussendlich handelte es sich nach den Maßstäben der römischen Nobilität bei dem eingangs geschilderten Massaker an den Lusitanern um ein legales, weil hier die unehrenhafte Niederlage vermieden wurde.

Rhytmen und Dynamik der Entgrenzung der Gewalt

In der von Frank Reichherzer (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) moderierten anschließenden Diskussion wurden offene Fragen geklärt und die Referentinnen charakterisierten jeweils für ihre Epoche den Faktor Zeit in Bezug auf die Dynamik der Entgrenzung der Gewalt. Für die Antike wurde eine Rhythmik in Anlehnung an die Amtsperiode festgestellt. Am Beginn der Amtszeit war die Ausprägung der militärischen Gewaltanwendung „normal“, wohingegen zum Ende der Amtszeit eine Zunahme von Ausschweifungen und Massakern konstatiert werden kann. Zudem spielte der Faktor Zeit auch bei der Planung von Feldzügen eine Rolle. Gerne wurde der religiöse Kalender dazu herangezogen – Beginn und (aus römischer Sicht hoffentlich) Siegesfeier wurden zu bestimmten kalendarischen Festen geplant. Der rhythmische Aspekt wurde seitens Quaas auch für das Mittelalter bestätigt: Politische und jahreszeitliche Rhythmen bestimmten den „Kriegskalender“. Im Verlauf des Mittelalters veränderte sich dies jedoch. Im Spätmittelalter wurden die Feldzüge an den Außengrenzen des Reiches zeitlich schwerer planbar, deswegen wich der Rhythmus mehr und mehr von den Jahreszeiten bzw. religiösen Festen ab. Sturkin charakterisierte die Rhythmen für die Neuzeit als naturbedingt (jahreszeitlich) und menschengeschaffen - ein vormittäglicher und nachmittäglicher Artilleriebeschuss schafft ebenso einen zeitlichen Rhythmus wie Tag und Nacht. Dabei werden die Rhythmen immer wieder gezielt zu durchbrechen versucht, um die entsprechenden Anpassungsversuche zu unterminieren. Zusammenfassend für das spannende Panel wurde seitens Reichherzer festgehalten, dass exzessive Gewalt und der Prozess der Grenzüberschreitung nicht allein auf den konkreten Moment, sondern wesentlich durch zeitliche Komponenten determiniert sind

von Leonie Hieck

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